Hypnotisches Brusthaar

■ Sound prima, Songs bekannt, Effekte rundum effektiv: Kiss überzeugten auf ganzer Linie im Velodrom. Das Hemd von Paul Stanley war schon am Ende des zweiten Stücks ausgezogen

Plateausohlen, Plunder und Pyrotechnik – vier Herren um die 50 wollen es immer noch wissen. Abends, wenn es dunkel wird, springen sie in ihren Kostümschrank, kleistern sich die faltige Haut mit Schminke babypopoglatt und ziehen den Bauch nach Kräften ein. You wanted the best, you got the best! Hallo, hier sind Kiss, die hottest band in the world. Tusch, Vorhang und zwölf Böllerschüsse zur Hallendecke.

Alles scheint wie damals, Paul Stanley wackelt mit dem Hintern Richtung Mikrofon und breitet die Arme aus, Gene Simmons schlackert lasziv mit seiner Rinderzunge, Peter Criss sitzt irgendwo hinter seinen Drums. Nur Ace Frehley sieht in seinem hautengen Space- Anzug etwas unglücklich aus. Seine staksigen Beine passen nicht zum dicken Bauch, sein Hals scheint im Rumpf versunken, unglücklich wie ein verlorenes Mondkalb steht er x-beinig auf der Bühne des Velodroms. Ihm gehört an diesem Abend die ganze Sympathie, denn auch das Publikum ist, seit es noch mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, an einigen Stellen aus den Fugen gegangen, Alterungsprozesse machen eben vor niemandem halt.

Doch noch immer glaubt es an den Rock'n'Roll, die Magie strammsitzender Röhrenjeans und die Kraft von Langhaarfrisuren mit Pony. Mit Band und Publikum haben sich zwei gefunden, Mißverständnisse sind nicht vorgesehen. Also Jubel, Kreischen und rhythmisches Klatschen. Der zweite Song ist gerade vorüber, und Paul Stanley hat sich schon das Hemd ausgezogen. Seine Brustbehaarung ist von hypnotischer Wirkung, seine Ansagen sind unsagbar tuntig, Paul Stanley ist die Lilo Wanders des Glamrock der ersten Generation. Später wird er mit einem Trapez über das Publikum schweben wie eine ältliche Primadonna.

Jedes Bandmitglied hat hier seine Sondershow. Gene Simmons spuckt wie gewöhnlich Feuer und Blut und fliegt später mit seinem beilförmigen Bass zur Hallendecke, Peter Criss hebt während eines Solos mit dem Schlagzeug ab, Ace Frehley schießt mit seiner Gitarre nach einem geistesabwesenden, irgendwie postkoital schlaffen Gniedelsolo auf die Bühnenbeleuchtung. Das sind die Special Effects, auf die das Publikum seit Kindertagen wartete, und an diesem Abend bekommt es sie sogar in 3-D. Natürlich sind Konzerte, sofern man zwei Augen sein eigen nennt, immer in 3-D, doch Kiss- Konzerte sind es ganz besonders. Dank einer am Eingang ausgehändigten Spezialbrille und einer Leinwand am Bühnenende sah man die vier zum Greifen nah, überlebensgroß und in Farbe.

Um den Eindruck zu verstärken, werden immer wieder vorbereitete Clips eingespielt, in denen etwa Peter Criss mit seinen Sticks vor den Nasen des Publikums winkt oder Gene Simmons mit seiner Zunge herumschlickert. Das begeistert natürlich sehr, wie überhaupt die gesamte Veranstaltung begeistert. Denn der Sound ist prima, die Songs bekannt, und die Effekte sind so schreiend blöd wie billig. Bei „Rock'n'n Roll All Night“ kennt der Unsinn keinen Halt mehr, und das Publikum badet in Konfetti, das von der Decke rieselt. Nach drei Zugaben räumt die Band die Bühne, die Zuschauer gönnen sich auf dem Heimweg noch ein Dosenbier. Harald Peters