Die vergessene serbische Provinz

Wie das Kosovo war auch die Vojvodina innerhalb Serbiens bis vor zehn Jahren eine autonome Provinz. Gegen das Regime in Belgrad macht sich nun Unmut bemerkbar  ■ Aus Subotica Thomas Schmid

Bereits im Jahr 1850 mußten in Subotica die Bürger ihre Haustiere registrieren lassen. „Damals hatte jeder Hund ein Dokument in fünf Sprachen“, sagt Jozsef Kasza, der Bürgermeister der Stadt, „und schauen Sie sich heute, 150 Jahre später, meinen Personalausweis an: Geblieben ist nur das Serbische.“

Joszef Kasza ist Ungar, und Subotica liegt in Serbien, genauer in der Vojvodina, einer Region im Norden des Landes. Sie verfügte, wie das Kosovo im Süden, über eine weitgehende Autonomie, bis Slobodan Milošević vor zehn Jahren die beiden Provinzen gleichschaltete. Die Vojvodina und das Kosovo waren die ersten Opfer des serbischen Nationalismus, der den titoistischen Kommunismus ablöste, doch ansonsten haben sie wenig gemeinsam.

Während das Kosovo traditionell das Armenhaus Jugoslawiens war, galt die Vojvodina als dessen Kornkammer. Während die Serben im Kosovo eine Minderheit sind, sind sie in der Vojvodina die Mehrheit. Und während das Klima im Kosovo heute von der Arroganz der Macht, von Haß und Gewalt geprägt ist, herrscht in der Vojvodina allen Spannungen zum Trotz doch noch eine Atmosphäre der Toleranz. Man ist stolz darauf, daß hier 26 Völker wohnen: Serben, Ungarn, Kroaten, Slowaken, Rumänen, Ukrainer, Ruthenen und viele andere mehr. Bis vor zehn Jahren waren die amtlichen Dokumente und die Schilder an öffentlichen Gebäuden noch oft in sechs Sprachen abgefaßt.

Zwei Ströme – die Donau und die Theiß – durchfließen die Vojvodina und teilen sie in ihre drei historisch gewachsenen Regionen: die Batschka, das Banat und Syrmien (Srem). Landschaftlich ist die Gegend recht langweilig und eintönig, zum großen Teil eben, nur die Kirchtürme und Silos ehemaliger Agrokombinate brechen ab und zu die Herrschaft des Horizontalen. Die Dörfer sind weder schmuck noch häßlich. Hohe Zäune um die einzelnen Häuser wehren jeden Blick ins Innere ab.

Die Ungarn fürchten Racheakte

Auch die Städte sind keine Perlen. Doch Subotica macht eine Ausnahme. Der Ort hat ungarisches Flair, ein Hauch von K.u.K., eine Prise Duft von verflossenem Reich. Und noch sind die Ungarn die stärkste Volksgruppe in der Stadt, aber sie stellen höchstens ein Drittel der Einwohnerschaft, während vor dem jugoslawischen Erbfolgekrieg fast die Hälfte sich als Ungarn deklarierten.

„Viele sind 1991 geflohen“, erklärt Jozsef Kasza, der erste Bürger der zweitgrößten Stadt der Vojvodina, „weshalb hätten sie im Krieg zwischen den Kroaten und Serben Partei ergreifen sollen?“ Jetzt fürchtet der Mann, dessen Leibesfülle und wilder Schnäuzer die Autorität eines feudalen Gutsbesitzers ausstrahlen, wieder um seine Landsleute. In wenigen Wochen wird Ungarn Mitglied der Nato sein, und wenn die Nato dann im Kosovo-Konflikt eingreift, so fürchtet Kasza, könnten die Ungarn schnell Opfer von Racheakten werden.

Jozsef Kasza hat im letzten Sommer, als serbische Sondereinheiten der Polizei im Kosovo Dörfer brandschatzten und Hunderttausende Albaner in die Flucht trieben, öffentlich gegen Miloševićs Strategie der verbrannten Erde Stellung bezogen. Er hat Verständnis für Deserteure bekundet. Er verlangt seit der Abschaffung der Autonomie der Vojvodina vor zehn Jahren mehr kulturelle Rechte für seine Ungarn und auch für die anderen Minderheiten.

Doch vor allem geht es ihm um handfeste wirtschaftliche Belange. Vor 1989 seien 65 Prozent des Wirtschaftsprodukts der Vojvodina in der Provinz verblieben, behauptet er, heute seien es nur noch 12 Prozent, der Rest fließe in die Zentrale ab. Und während in der Vojvodina 90 Prozent der Bürger ihre Steuer bezahlen würden, seien es in Serbien gerade mal 16 bis 20 Prozent. „Unsere Bauern haben den Krieg in Kroatien und Bosnien bezahlt“, meint er, „wir wollen nicht auch noch den Krieg im Kosovo bezahlen.“

Auch Nenad Canak will mehr Autonomie für die Vojvodina. Der junge Präsident des Sozialdemokratischen Bundes, der in Novi Sad, der Hauptstadt der Provinz, mit anderen oppositionellen Parteien die lokale Regierungsgewalt ausübt, markiert mit seinen schwarzen Hosenträgern, die er offen über dem schwarzen Hemd trägt, den Typ des hemdsärmeligen Draufgängers. Einer, der weiß, was er will, und das auch anpackt. Und bei ihm paart sich Eitelkeit mit Humor. Hinter seinem mächtigen Schreibtisch hängt ein überlebensgroßes Porträt, das ihn selbst in cybermäßig gestylter eiserner Rüstung vor der blaugelbgrünen Fahne der Vojvodina zeigt.

Große ethnische Spannungen sieht er in der Provinz nicht. Natürlich versuche der Rechtsextremist Šešelj, dessen Radikale Partei bei den letzten Wahlen immerhin nach Miloševićs Sozialisten zweitstärkste Kraft in der Provinz wurde, Konflikte zwischen den Völkerschaften zu schüren. Doch es gebe auch starke Gegenkräfte. Dabei meint er vor allem seine Partei. Er selber ist Serbe, sein Vize zur Hälfte Slowake und zur Hälfte Albaner, sein Kabinettschef ein Kroate und der Vizebürgermeister der Stadt ein Tscheche. So ist es eben in der Vojvodina.

Auch Canak begründet die Forderung nach mehr Autonomie der Provinz vor allem wirtschaftlich. 32 Prozent des Budgets Jugoslawiens würden in der Vojvodina erwirtschaftet, die nur knapp über 20 Prozent der Bevölkerung ausmache. „Allein die Stadt Pancevo erwirtschaftet mehr als ganz Montenegro“, behauptet er, „aber die Löhne liegen in Montenegro 40 Prozent über jenen der Vojvodina.“ Die Lösung, sagt Canak, liege in einer Dezentralisierung Serbiens. Er stellt sich sechs Regionen mit autonomen Befugnissen vor. Montenegro werde vermutlich den jugoslawischen Staatsverband verlassen – aber Kosovo müsse in Serbien verbleiben.

Auf die Albaner vom Amselfeld ist er nicht sonderlich gut zu sprechen: „Die sehen immer nur ihr eigenes Problem, haben sich nie um das Schicksal der Kroaten und der bosnischen Muslime gekümmert und tun, als ob sie die Menschenrechte gepachtet hätten.“ Miloševićs Politik in den letzten Jahren habe vor allem eines gezeigt, meint der Sozialdemokrat: „Je weniger Demokratie, desto kleiner wird das Land.“ Aus dem alten Jugoslawien wurde Restjugoslawien, weil sich Milošević einer Demokratisierung der Föderation widersetzte und Slowenien und Kroatien ihre Zukunft außerhalb suchten. Aus dem Restjugoslawien droht Montenegro auszutreten, und das Kosovo kann nur noch unter Einsatz von Panzern gehalten werden.

Daß die Vojvodina, das vergessene Opfer von Miloševićs Gleichschaltungspolitik, nicht zum Pulverfaß wurde, ist nicht selbstverständlich. Immerhin hat sich das soziale und ethnische Gefüge der Provinz in wenigen Jahren radikal verändert. Von den 650.000 serbischen Flüchtlingen aus Kroatien und Bosnien hat sich mehr als die Hälfte in der Vojvodina angesiedelt, wo sie nun etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Gleichzeitig sind mehr als die Hälfte der 75.000 Kroaten, die vor dem Krieg gegen Kroatien noch in der Provinz gewohnt haben, geflohen. Auch 50.000 von insgesamt 350.000 ansässigen Ungarn sind über die Grenze ins Mutterland gegangen. Außerdem hat die Vojvodina wie ganz Serbien im letzten Jahrzehnt einen rapiden Verarmungsprozeß durchgemacht.

Das fruchtbare Land an Theiß und Donau, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zur Habsburger Doppelmonarchie gehörte, war schon oft neu besiedelt worden. Zum Beispiel 1690. Da kamen über 100.000 Serben aus dem Kosovo, die vor Rachefeldzügen der Türken geflüchtet waren. Der Exodus, angeführt vom Patriarchen Arsen Cernovic III., ist in Serbien auf vielen Gemälden verewigt. Oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die 550.000 Donauschwaben, die in der Vojvodina lebten, flüchteten, wurden vertrieben, verhungerten in Lagern oder wurden massakriert. Etwa 400.000 Serben zogen in die leeren Häuser ein.

Heute gibt es offiziell gerade noch 4.000 Deutsche in der Vojvodina. „In Wirklichkeit sind wir allerdings knapp über 10.000“, behauptet Rudolf Weiss, der Präsident des vor zwei Jahren gegründeten Deutschen Volksverbandes. Viele hätten sich bei der letzten Volkszählung nicht getraut, sich als Deutsche zu deklarieren.

Im Bücherregal des 35jährigen Geschichtslehrers stehen CD-Kassetten, betitelt mit „Oh, du wunderschöner Rhein“ oder „Strömt herbei, ihr Völkerscharen“. Das Ziel seines Verbands sei der Schutz der Interessen der deutschen Minderheit und die Pflege der deutschen Sprache, Sitten und Kultur, sagt Rudolf Weiss. „Wir wollen uns dafür einsetzen, daß wir Deutschen hier in der Vojvodina tapfer zu unserem Deutschtum stehen und wir uns ohne Angst als solche bekennen.“ Das hört sich gestelzt- völkisch an. Doch es wird etwas verständlicher, wenn man weiß, daß Weiss als Junge seine Nationalität verschweigen mußte. Seine Eltern verboten ihm vorsichtshalber, auf der Straße deutsch zu sprechen. „Bin ich denn für die Verbrechen der Generation meiner Eltern mitschuldig?“ fragt er heute, „und vielleicht auch noch meine Kinder?“

Doch wer kennt denn heute schon Namen wie Rudolfsgnad (Knicanin) oder Gaumarkt (Gakowa), wo es Lager gab, in denen Zehntausende von Donauschwaben zu Tode kamen? Viele von ihnen hatten mit den Nazis sympathisiert oder kollaboriert, andere wurden für die Waffen-SS zwangsrekrutiert, und wieder andere waren einfach nur Deutsche und kamen deshalb um. „Heil Weiss!“ grüßen einige Schüler hin und wieder ihren Geschichtlehrer. Rudolf Weiss, geboren in Franzisdorf (Novi Becei), wohnhaft in Mariatheresiopel (Subotica) im Batscherland (Batschka) macht sich nichts draus. „Die denken sich da nicht viel bei.“

Eine alternative Uni gegen Nationalismus

Auch Dejan Janca spricht fließend Deutsch. Er ist in einer von nur drei nichtdeutschen Familien im damals siebentausend Seelen zählenden Filipovo aufgewachsen. „Unsere Generation“, sagt der emeritierte Universitätsprofessor, „ist in der Regel dreispachig groß geworden, man sprach serbisch, ungarisch, deutsch.“ Der Experte in Völkerrecht wirbt seit Jahren für eine Neugestaltung Serbiens. „Wir brauchen eine asymmetrische Dezentralisierung“, meint er, „die je nach den geschichtlichen und kulturellen Gegebenheiten der zu schaffenden Regionen verschiedene Arten und Intensitäten von Autonomie zuläßt.“

Als Rentner hat Janca nun eine alternative Universität mit gegründet. Sie will sechs Disziplinen als Lehrfach anbieten, die in keinem serbischen Lehrplan vorkommen, unter anderem „multikulturelles Zusammenleben“, „Geschäftsmoral“, „Menschenrechte im nationalen und internationalen Recht“. Nächste Woche geht es los. Nur vierzehn Tage wurde für das Projekt geworben, aber schon 160 Studentinnen und Studenten haben sich eingeschrieben.

Das gibt Anlaß zu Hoffnung. Die meisten von ihnen waren erst zehn Jahre alt, als der Krieg in Jugoslawien losgetreten wurde und als der Nationalismus seine absurdesten Blüten trieb. Aus dieser Studentenschaft könnte eines Tages, zum Teil wenigstens, eine neue Elite für eine neue Vojvodina hervorgehen, sinniert der Rentner, eine Elite, die der Toleranz verpflichtet ist. Von der multiethnischen Vojvodina könnten Impulse für ein neues Jugoslawien ausgehen. Nur das Kosovo werde diesem wohl nicht mehr angehören. „Da sind wir zu spät, die Albaner haben wir verloren.“