Letters from Shanghai
: Kein Weltende bei Xia gang

■ Schrittmacherinnen des Fortschritts an der Schwelle zum neuen Jahrhundert: ein Postskriptum zum Internationalen Frauentag

Nach den Worten des Vorsitzenden Mao tragen die Frauen die Hälfte des Himmels; nach einer Statistik der Shanghai Women's Federation (SWF), des lokalen Ablegers des nationalen Frauenverbandes, machten in diesem Jahr die Frauen 49 Prozent der Studienanfängerinnen an den Shanghaier Universitäten und Hochschulen aus. Die Shanghaier Sportkommission weiß, daß die Frauen dieser Stadt fitter sind als die Männer, und eine weitere Statistik beziffert ihre Lebenserwartung mit 79,21 Jahren 4,03 Jahre höher als die der Männer. Also die beste aller möglichen Welten für die Frauen in Chinas westlichster Metropole, der Stadt mit der niedrigsten Geburtenrate und dem höchsten Bildungsstandard?

Dem Bericht von der Pressekonferenz der Vorsitzenden der SWF im Vorfeld zur Tagung des Nationalen Volkskongresses in Peking und dem Internationalen Frauentag am 8. März fehlten allerdings die entscheidenden Zahlen: Die über die Arbeitslosigkeit unter den 6,5 Millionen Frauen (arbeitsfähigen, vermutlich) in dem wie das übrige China von Umstrukturierungen betroffenen Shanghai. Statt dessen fuhr der Bericht mit Beispielen erfolgreicher Umschulung entlassener Arbeiterinnen fort, die mit Hilfe des Shanghai Women's Education and Training Center (SWETC) seit 1995 neue Anstellungen gefunden haben.

„Xia gang (die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis bei Weiterzahlung minimaler Bezüge) ist nicht das Ende der Welt“, schärfte uns auch eine Sprecherin bei der diesjährigen Festveranstaltung der SWF zum Frauentag ein. Sie bekam eine der Auszeichnungen verliehen, genannt „Rote Banner Medaillen vom 8. März“.

Die Preise gingen an 785 einzelne „Rote Modellfrauen“ und 10 Modellbetriebe sowie die „Top 10“ des „Roten Banners“, die „Schrittmacherinnen“. Sie alle hatten beispielhafte Anstrengungen für die „menschliche Zivilisation“ und den „Fortschritt der Gesellschaft“ im allgemeinen und den Aufbau Shanghais zur „modernen sozialistischen Metropole“ im besonderen geleistet.

Meng Yankun, die Vorsitzende des SWF, aus deren Festrede die Zitate stammen, gab den Anwesenden, allesamt hohe Kader und Funktionärinnen sowie eine Handvoll ausländischer Frauen, drei Leitsätze mit auf den Weg: erstens eifrig die Lehren der Deng-Xiaoping-Theorie zu studieren, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein; zweitens mutig Verantwortung im Reformprozeß zu übernehmen, gemäß der Parole der nationalen All China Women's Federation (ACWF), „Frauen leisten einen neuen Beitrag“; und drittens eine harmonische Atmosphäre in der Familie zu schaffen, um durch die Fortschreibung traditioneller Werte den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern.

Leider blieb die englische Übersetzung der Rede, welche uns die freundlichen jungen Frauen von der Öffentlichkeitsarbeit zukommen ließen, in dem Punkt des Fortschritts durch Traditionspflege (welche Tradition? die konfuzianische?) vage. Das Festprogramm schritt unerbittlich fort zur Preisverleihung an die roten Bannerträgerinnen und zur Rede des Vizeparteisekretärs Gong Xueping. Dieser Herr im eleganten grauen Sun-Yat- sen-Anzug (vulgo: „Mao-Anzug“) saß mit einer ganzen Gruppe leitender Herren in der VIP-Reihe des Shanghai Grand Theatre, flankiert von wenigen Damen. Ließ bereits diese offensichtliche Verteilung städtischer Machtbefugnisse Zweifel an der Durchsetzung der „grundlegenden Politik der Gleichheit der Geschlechter“ (Frau Meng) aufkommen, provozierte das diesjährige Festprogramm einmal mehr Fragen nach dem aktuellen Frauenbild der Volksrepublik. Stephanie Tasch