■ Schlagloch
: Die Weisheit der Zahnlosen Von Klaus Kreimeier

„Welcher junge Mensch kann es sich heute eigentlich noch leisten, postmaterialistisch zu denken, geschweige denn zu leben?“ (Vier junge Grüne, in: http://www.regioconnect.de/jung )

Wahr ist, daß grüne Politik nicht zuletzt aus idealistischem Denken hervorging und daß Idealismus als Politik Gefahr läuft, in Nörgelei zu enden. Wahr ist aber auch, daß keine entwickelte Gesellschaft auf den Stachel der Idee verzichten kann. Ideen sind nicht die Negation der Materie (sie bildet ohnehin die Grundlage gesellschaftlichen Handelns), sondern ermöglichen die kulturelle Zähmung des Materialismus. Die Grünen haben in der relativ kurzen Periode ihrer Existenz eine Kulturleistung vollbracht – im Sinne der Humanisierung eines materialistisch fundierten Gemeinwesens, das der Ideen bedarf, um nicht als Selbstbedienungsladen zu verkommen. Sie müssen jetzt aufpassen, daß sie mit der notwendigen Korrektur ihrer Politik nicht die Antriebskräfte liquidieren, die sie zu einem notwendigen Faktor gemacht haben.

Der Ruf, sich die „postmaterialistischen“ Flausen aus dem Kopf zu schlagen, kommt zu einem verräterischen Zeitpunkt. Er klingt wie das Echo einer Litanei, mit dem uns heute die ideologischen Vorreiter einer umfassenden, alle Winkel unseres Lebens erfassenden Ökonomisierung umgirren: Jeder bediene sich selbst, soziales Denken sei nichts als Humanitätsduselei. So richtig es ist, die „Lebensrealität“ der Menschen im Blick zu haben, die man erreichen will – es kann nicht falsch sein, auch die Faktoren der Außensteuerung im Visier zu behalten, die Fallensteller, die es darauf anlegen, Lebensrealität an das Programm der allgemeinen Kommerzialisierung anzukoppeln. Neue Themen – um sie geht es den jungen Grünen ja – fallen nicht vom Himmel, sondern werden gemacht; in dieser Werkstatt regieren handfeste Interessen. Eine Partei, die nach neuen Themen Ausschau hält, weil sie die eigenen veraltet wähnt, gerät schnell in den Sog jener Warenhausphilosophie, die durch pfiffige Anpassung und besonders schicke Accessoirs konkurrenzfähig zu bleiben sucht.

„Trotz prinzipieller Zustimmung zum Umweltschutz“ – das Thema sei irgendwie passé, meinen die jungen Grünen. Es ist wohl nicht die verlorene Hessen-Wahl, sondern noch immer das Fünf- Mark-Trauma, von dem sich die Partei bis heute nicht erholt hat. Vergebens die Stimmen, die im allgemeinen Gezeter unverzagt darauf bestanden, daß eine drastische Benzinpreiserhöhung (im Laufe von zehn Jahren!) nicht nur gerechtfertigt, sondern auch ökonomisch sinnvoll sei – ein notwendiger Impuls für ein technologisches Umdenken in der Automobilindustrie! Vergessen die Zustimmung, die damals, wenn auch vereinzelt, sogar aus den Konzernen zu hören war. Der Schock war übermächtig – und er hat einen wunden Punkt der Grünen aufgedeckt: ihr mangelndes Selbstvertrauen; ihre Neigung, die Segel zu streichen, wenn der Wind von vorn bläst.

Monatelang zogen sie Abbitte leistend durchs Land. Längst hatte sich die Wählerschaft von der Fünf-Mark-Zumutung erholt – die Grünen waren immer noch dabei, allen Seiten zu versichern, sie hätten sich verrechnet, so ernst sei es nicht gemeint. Widerstandslos, kleinmütig, ja schuldbewußt ließ man sich in den Koalitionsverhandlungen auf sechs Pfennig herunterrechnen. Jetzt meldet sich die Weisheit der Zahnlosen: Es gelte, nicht das „Programm“ herunterzubeten, sondern das „Machbare“ durchzusetzen. Eine ganz falsche Widerspruchskonstruktion! Politik besteht darin, das als notwendig Erkannte zu erklären, im Kampf um Mehrheiten Rückschläge zu riskieren, Kompromisse einzugehen, wenn sie einen taktischen Erfolg ermöglichen – anstatt vor lauter Taktik gleich auch strategisch den Rückzug anzutreten.

„Die Technik, die den Menschen im alltäglichen Leben hilft“, sei nicht die Solartechnik, auch nicht die Windkraft, sondern Autos, Computer, Chip-Karten, Handys, Fernseher und die neuen Medien. So die jungen Grünen. Das ist so richtig wie platt – und es wird falsch, wenn uns hier ein Widerspruch verkauft werden soll. Klar, im Alltag komme ich nicht ohne Auto und Chip-Karte aus, und das Handy ist eine praktische Erfindung, vor allem für das Leben im Stau. Zukunft wird dieses angenehme Leben mit seinen neuen, technisch produzierten Beschwerlichkeiten allerdings nur haben, wenn wir in der Energiepolitik auf das Erneuerbare, also auch auf Solar- und Windkraft umsteigen – Technologien übrigens, die ihrerseits nicht ohne den Segen der EDV funktionieren werden.

Es ist unsinnig, angeblich „lebensnahe“ Techniken wie den Computer oder den Fernseher gegen die angeblich „lebensferne“ Solartechnik auszuspielen. Es kommt nicht auf die Themenwahl an, sondern auf die Darstellung der Zusammenhänge. Jedem Computerfreak kann man erklären, daß er sich auf Dauer nur dann des Internets erfreuen wird, wenn der Strom aus modernen Quellen eingespeist wird und nicht jeden Tag ein neues Tschernobyl droht.

Leider sind die jungen Grünen, die doch endlich Leben in die Bude bringen wollen, in starre Dichotomien regelrecht vernarrt. „Selbstverständlich braucht man weiterhin die Beratungsstellen für bestimmte Zielgruppen, aber dennoch müssen wir Existenzgründung mit System betreiben.“ Aber dennoch? Eine aberwitzige Konstruktion! Was hat das eine mit dem anderen zu tun, und warum könnte das eine dem anderen im Wege stehen? Sicher ist, daß mancher Ratlose derzeit gut beraten wäre, nach kluger Abwägung der Bedingungen eine Existenzgründung zu wagen. Umgekehrt benötigen Zigtausende junger Existenzgründer, die im Bereich der neuen Medien heute als Ein-Mann-Unternehmer Hals über Kopf auf den freien Markt hopsen, dringend fachliche Beratung, wie ihr Unternehmen die rasante Beschleunigung der technischen Innovationen und die irrationale Börsenspekulation überstehen kann.

„Die Alltagstechnologien müssen wir in unser politisches Verständnis von der Welt einbauen.“ Sehr gut. Aber daß die vielen Menschen, die Produkte im Internet kaufen, „jegliche Debatten um den Ladenschluß ad absurdum“ führen, ist falsch. Ich werde meine Bücher bei „Amazon.com“ bestellen und mit meinem Bäcker weiter über die Ladenschlußzeiten hadern. Begeisterung für technischen Fortschritt in allen Ehren, aber selbst Schröder wird noch einsehen, daß man auf Liebe zum Auto keine Politik aufbauen kann.

Politik, die der technischen (und ökonomischen) Entwicklung hinterherhechelt und sie den Menschen irgendwie schmackhaft zu machen sucht, hat verloren, bevor sie ein Programm formuliert hat. Nur einer Politik, die sinnvolle technische Entwicklungen möglich macht und die Strategen der Ökonomisierung, die stets zur Stelle sind, wenn technisch Machbares verkauft werden kann, in Schach hält, gehört die Zukunft. Bleibt die Frage, ob die jungen Grünen ihre ersten Zähne noch bekommen werden oder ihre letzten schon verloren haben.