Mit 39 Grad dem Fleisch sehr nah

Lammherz, Hühnerklauen und Mobiltelefon im Einmachglas – Die Galerie „liebe deinen nächsten“ zeigt die Installation „Spende Zeit“ des schwedischen Zeichners Max Andersson, und zwar pünktlich zum Erscheinen seines neuen „Container“-Comics  ■ Von Cristina Nord

Zwei Liegen mit Plastiküberzug, dazwischen ein kleiner Tisch mit Apparaturen wie zum Blutdruckmessen, darüber ein Einmachglas, in dem ein Wesen aus Hühnerklauen, Lammherz und Mobiltelefon konserviert ist: So sieht das Kernstück der Installation „Spende Zeit“ aus, die der schwedische Comiczeichner Max Andersson pünktlich zum Erscheinen seines neuen Heftes „Container#3“ in der Galerie „liebe deinen nächsten“ aufgebaut hat.

Rechts von den Liegen dient eine Plastikfolie als Raumteiler, links hängt die Röntgenaufnahme einer Lunge, datiert auf den 2.12.96, 15.55 Uhr, mit dem Namen Andersson versehen. Auf einem Bord, nicht weit davon entfernt, befinden sich sieben weitere Einmachgläser. Metall- und Plastikteile verbinden sich darin mit Fleischstücken, so daß Figuren entstehen, die dem Wesen zwischen den Liegen artverwandt sind. „Fleisch ist uns sehr nah“, sagt der 36jährige Andersson, der in Stockholm Graphikdesign studierte und Filme drehte, bevor er sich vor etwa zehn Jahren aufs Comiczeichnen verlegte. „Wir sind daraus gemacht, daher ist es ein spannendes Thema und ein spannendes Material.“ Und ergänzt, da er an den Figuren gearbeitet habe, während er eine Grippe und 39 Grad Fieber hatte: „Das hat sie vielleicht besser gemacht.“

Wer mag, kann sich auf einer der Liegen niederlassen, um Zeit zu spenden. Glaubt man der roten Kladde, in die sich die Spender eintragen, wurde von dieser Möglichkeit seit der Vernissage am vergangenen Samstag ausgiebig Gebrauch gemacht. Aber Vorsicht: In Anderssons Welt gibt es kaum etwas, was spurlos am Körper vorbeigeht. Deswegen birgt das Plakat zur Installation eine Warnung. Nachdem die Zeit gespendet wurde, nimmt der Kopf des Spenders die Form einer Sanduhr an.

Lebenszeit gegen Geld eintauschen und teuer dafür bezahlen – das ist ein Sujet, dem Andersson schon in seinem ersten Album, „Pixy“ (1992, dt. 1995), eine Episode widmete. Darin kann der Held „was Bares gebrauchen“ und sucht deswegen eine „Zeitbank“ auf. Die Paneele sind tuschegetränkt; nur wenige weiße Flächen und Linien formen sich zu einem Szenario, das in „Spende Zeit“ seine dreidimensionale Entsprechung findet. Oft kommt es in Anderssons Arbeiten vor, daß sich eine Figur aus Geldnot einer Beschäftigung hingibt, mit der verglichen sich die Erbsendiät eines Woyzeck wie eine Kleinigkeit ausnimmt. Sei's der Zeitspender, der zur Sanduhr mutiert, seien's die Fleischer in „Container#2“, die ihre eigenen Gliedmaßen zum Verkauf anbieten müssen: um einen Kapitalismuskommentar im Comicformat geht es in beiden Fällen. Entfremdung und Entstellung jedenfalls sind in Anderssons Arbeiten so gegenwärtig, wie es an intakten Körpern mangelt.

Die Teile führen ein prekäres Leben

„Die meisten meiner Geschichten kreisen um den Körper, um Körperfunktionen und Körperflüssigkeiten. Ich denke, es ist eine gute Erzählweise, vom Menschen und dem menschlichen Körper auszugehen“, resümiert der Zeichner. Wobei er auch ganz gerne unbelebte Materie zum Leben erweckt. Die Körper werden um Maschinenteile erweitert, die Gegenstände führen ohnehin ihr eigenes, wenn auch prekäres Leben. In „Pixy“ gibt es sieche Häuser, in „Car-Boy und das Geheimnis des Car-Killers“ („Container#1“) Autoskelette und in „Der Sprengkörper“ („Container#3“) sprechendes Spielzeug. Mit Car-Boy, Wrack-Boy und Traktor-Girl kommen Figuren hinzu, die halb Wagen, halb Kinderleib sind – und die man als handgemachte Puppen aus Stoff und Aluminium für 149 Mark das Stück kaufen kann.

Der Raum, den diese Figuren durchwandern, besteht aus einem Gefüge von Parallel-, Ober-, Halb- und Unterwelten, was im bisweilen labyrinthischen Aufbau der Seiten ein Echo findet. „Seit ich ein Kind bin, haben mich Geschichten von Höhlen, Unterwelten und Tunneln fasziniert“, sagt der Zeichner, der seit knapp zwei Jahren im Berliner Bezirk Friedrichshain lebt, weil ihm Stockholm zu langweilig geworden ist. Mit dem Comiladen Grober Unfug sowie den beiden Kleinverlagen Reprodukt und Jochen Enterprises biete Berlin eine gute Infrastruktur für unabhängige Zeichner. Außerdem sei das Leben hier weniger kostspielig als in Schweden: „Hier kann ich vom Comiczeichnen leben, unter anderem deswegen, weil meine Miete so niedrig ist. In Schweden hätte ich das nicht gekonnt. Dort müßte ich jobben, was mich verrückt machen würde, da ich mit den Comics genug zu tun habe.“ Anders als seine Figuren, so scheint es, hat Andersson einen Weg gefunden, den Handel mit der Lebenszeit zu umgehen.

„Spende Zeit“: Bis 20.3., Mi.–So., 18–22 Uhr, Galerie „liebe deinen nächsten“, Veteranenstr. 16; am 14.3. um 20 Uhr werden dort Filme von M. Andersson gezeigt. Max Andersson: „Container#3“, Jochen Enterprises (Hrsg.), schwarz-weiß, 9,95 DM