„Sich endlich mal wieder um was anderes kümmern“

■ Schwerstabhängigen wie Michael könnte der Modellversuch zur kontrollierten Heroinabgabe helfen

Ganz langsam rührt Michael* in seinem Apfelquark. Manchmal hebt er den Kopf und schaut zu Jürgen rüber, einem schmalen Typ mit eingefallenem Gesicht. Jürgen redet und hört gar nicht mehr auf. „Das ist Scheiße, was du sagst“, fällt Michael ihm schließlich ins Wort, „das gilt höchstens für dich.“ Jürgen will wieder clean werden und hat gerade zum drittenmal erzählt, daß er das bereits 15 Jahre lang war. Michael ist seit mehr als zehn Jahren drauf und zweifelt daran, daß er den Absprung vom Heroin je schafft.

Es ist Montag abend, kurz nach halb zehn. Michael und Jürgen sitzen mit zwei anderen Junkies an den hellen Ikea-Holztischen im Aufenthaltsraum der Krisenwohnung des Drogennotdienstes in der Prinzenallee, einer einzigartigen Einrichtung in Berlin. Hier landet, wer drogenabhängig und obdachlos ist – und wem es richtig beschissen geht. „Heroin, dazu Kokain und Pillen, das ist die gängige Kombination“, sagt Michaela, die hier arbeitet. Viele der Junkies haben Hepatitis und sind HIV-positiv, einige haben Knasterfahrung. 15 Leute können hier ihre Nächte verbringen und essen, duschen, waschen, maximal vier Wochen am Stück. Drogenkonsum in der Wohnung ist strikt untersagt, aber ständig im Gespräch. Auch das Modellprojekt zur kontrollierten Heroinabgabe ist Thema.

Michael ist ein langer Typ mit roten Pickeln im Gesicht, vorn fehlen ihm drei Zähne. Seine fettigen blonden Haare hat er zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Er ist 33 Jahre alt und nimmt seit mehr als zehn Jahren Heroin. Er könnte sich eine Teilnahme am Modellprojekt vorstellen. „Ich hab Angst, daß ich als Straßenpenner ende“, sagt er und fischt einen Nagelknipser aus seiner Lederhose. „Ich habe alles verkauft, lebe asozial, es gibt keine Struktur, keinen Rückhalt, und plötzlich kannst du noch nicht mal mehr pissen.“ Seine letzte Wohnung hat Michael 1990 gehabt, „mal kurzfristig“.

„Aber Heroinabgabe, für mich wär das nichts“, fällt Jürgen ein. „Ich werd' in drei Monaten 40, für mich ist es zwei vor zwölf.“ Jürgen hat sich „mit 16 oder 17“ seinen ersten Schuß gesetzt, mit 20 eine Therapie gemacht. Danach hat er als Erzieher gearbeitet, hat mit seiner Freundin zwei Kinder bekommen. Als diese vor drei Jahren starb – „an Leukämie, das war keine Junkiebraut“ –, wollte er „nur noch einmal breit sein“. Danach war er wieder drauf, „und zwar ganz exzessiv“. Jürgen steht auf. „Ich hol' mir noch einen Kakao, wollt ihr auch was?“ Michael will, sonst herrscht Schweigen im Aufenthaltsraum.

Jürgen hat mehrere Entzüge und Therapien gemacht, war im Methadonprogramm. Den letzten Rückfall hatte er vor drei Tagen – es soll der letzte gewesen sein. „Wenn meine Urinwerte wieder okay sind, geh' ich zurück in meine betreute WG“, sagt er. Doch auch wenn er selbst kein Heroin auf Rezept will: „Von den Leuten hier könnte es vielen helfen.“

„Das hab' ich doch vorhin gesagt“, sagt Michael in scharfem Ton. „Ich bräuchte dann nicht mehr jeden morgen loszugehen und nur noch Kriminelles tun: Erst Geld besorgen und dann den Stoff, das ist doch der Streß.“ Michael braucht mindestens 100 Mark pro Tag für Heroin, „nach oben ist keine Grenze gesetzt“. „Das kommt drauf an, wie gut du geklaut hast“, sagt Jochen. Geklaut wird alles, was geht: Scheckkarten und Portemonnaies, Markenklamotten und Turnschuhe, Parfüm, Alkohol, Zigaretten, Kaffee. „Die Kids am Zoo haben aber die Preise kaputtgemacht“, sagt Michael, „die verkaufen alles billiger.“

Michael hat während der 90er fast acht Jahre im Knast gesessen, immer wieder war er drin, mit kleinen Unterbrechungen. „Müßt ihr vom Knast reden?“ lallt die Frau mit den wilden Locken und den Ringen in Nase und Mund, die Michael gegenübersitzt. „Mein Freund ist gerade im Knast, er soll auf dem Bahnhofsklo vor jemandem mit dem Messer rumgefuchtelt haben.“ Dann verliert sie sich wieder in dem Buch, in dem sie blättert. Der Mann, der neben Jürgen sitzt, löffelt weiter schweigend seinen Quark. „Aber noch mal zum Heroin“, sagt Michael, als hätte die Frau nichts gesagt. „Hätte man nicht jeden Tag den Streß, an Geld und an Stoff zu kommen, dann wäre Zeit für andere Sachen, man könnte sich um Arbeit, Wohnung, Freunde kümmern“, hofft er.

Die Klingel schrillt. Michaela geht zur Tür. Inzwischen ist es 20 nach elf, um halb zwölf ist Aufnahmeschluß in der Krisenwohnung. Vier Leute kommen an, darunter ein Mädchen, das wie 14 aussieht aber 18 sein soll, und ein Typ, der kaum noch stehen kann. Die beiden haben kurz zuvor noch Heroin und Pillen genommen. Michaela befürchtet, daß der Typ einschläft und schlimmstenfalls im Schlaf an einer Überdosis stirbt. „Peter, wenn du nicht wach bleibst, rufen wir die Feuerwehr“, droht sie und lotst den Typ in den Aufenthaltsraum. Michael reißt das Fenster auf, alle reden auf Peter ein. Das Gespräch über die kontrollierte Heroinabgabe ist vorbei. „Solche Fälle haben wir ganz oft“, sagt Michaela. „Dem würde die kontrollierte Abgabe bestimmt auch helfen.“ Sabine am Orde

*Namen der Junkies geändert