Opfer eines taktischen Kalküls

■ Im Kosovo brennen wieder Dörfer. Hunderte Bewohner fliehen nach Makedonien

Pristina (taz) – Kurz vor der Grenze zu Makedonien führt die Hauptstraße zwischen Pritina, der Hauptstadt des Kosovo, und Skopje, der Hauptstadt Makedoniens, durch eine Schlucht. Dort stauten sich gestern nachmittag die Panzer, Jeeps und Geländewagen von Armee, OSZE und UNHCR. Alle warteten auf die Flüchtlinge. Im Schulhaus von Kotlina haben sich 300 Menschen zusammengefunden, die evakuiert werden wollen.

Das Dörfchen, das auf der anderen Seite der Schlucht liegt, ist von der Armee umstellt. Bei Redaktionsschluß wurde noch verhandelt, wer die Flüchtlinge entgegennehmen darf. Am Tag zuvor schon waren gegen zwei Uhr nachmittags aus dem benachbarten Ivaja über 400 Menschen zu Fuß den Berghang heruntergekommen, auf den die Armee zwei Stunden zuvor noch aus Panzern heraus geschossen hatte. Die Artillerie hatte unter den Augen von Journalisten und zufälligen Passanten direkt von der Hauptstraße aus gefeuert.

Vorgestern hatte die Armee die Flüchtlinge entgegengenommen, Männer von Frauen und Kindern getrennt und in die Polizeistation von Kacanik gebracht, um sie auf Zugehörigkeit zur UÇK, der Guerilla der Kosovo-Albaner, zu überprüfen. Nachts um halb elf waren immer noch 35 Männer in Polizeigewahrsam. Gestern morgen sollen alle frei gekommen sein.

Fast alle Flüchtlinge vom Dienstag seien in Kacanik bei Verwandten oder Freunden untergekommen, berichtet Fikrije Rexha, eine alte Frau, deren Haus in Ivaja nun eine abgebrannte Ruine ist. Doch auch ihr 85jähriger Mann, die drei Kinder und vier Enkel sind gerettet. Vier Nächte hätten sie in Wäldern verbracht. „Zu essen hatten wir nichts als Brot, und niemand wußte, wie wir aus dieser Hölle herauskommen würden.“

Ivaja ist heute ein leeres Dorf. Ein Reporter fand gestern nur zwei Menschen – einen Toten in Zivilkleidung und den 84jährigen Ramadan Muljoki, der offenbar mit Gewehrkolben zusammengeschlagen worden war. Muljoki weigerte sich, das Dorf zu verlassen. Er sei auf der Suche nach seinem Sohn, berichtete er, bevor er ihn lebend oder tot gefunden habe, wolle er nicht weg.

Auf dem Plätzchen vor dem Schulhaus von Kacanik sitzt Irfete D. Es ist recht warm, doch die Alte ist in dicke Mäntel gekleidet. Sie ist nach Makedonien geflohen und hat in der Zeitung gelesen, daß ihr Sohn gestorben sei. Nun ist sie in den Kosovo zurückgekommen, um ihn zu holen. Doch getraut sie sich weder bei der Polizei noch bei der Armee vorzusprechen. Vielleicht wird ihr die OSZE oder die UNHCR helfen. Doch die haben vor allem mit der Evakuierung der Überlebenden zu tun.

Im Gebiet an der Grenze zu Makedonien spielt sich wahrscheinlich in diesen Tagen das größte Drama im Kosovo seit der Sommeroffensive ab, als serbische Streitkräfte über 300.000 Albaner in die Flucht trieben. Wie damals werden Dörfer zerstört und Tausende in die Flucht getrieben. Unklar ist, weshalb.Will die Armee das Grenzgebiet angesichts eines Nato-Angriffs säubern?

Allerdings hat Nato-Generalsekretär Solana bereits verkündet, ein Einmarsch von Nato-Truppen gegen den Willen der jugoslawischen Machthaber komme nicht in Frage. Vielleicht spielt auch ein anderes Motiv eine Rolle. Eine Zunahme der Kämpfe erschwert es der UÇK, den Friedensvorschlag von Rambouillet zu unterschreiben. Dies kann der serbischen Seite nur recht sein. Denn wenn die UÇK nicht unterschreibt, so stellte der deutsche Außenminister jüngst fest, sei es schwer, auf Serbien Druck auszuüben. So sind vielleicht die Flüchtlinge nur Opfer eines taktischen Kalküls. Thomas Schmid