Moskaus neuer Feldzug im Kaukasus?

■ Nach der Entführung eines russischen Generals spitzt sich die Lage in Tschetschenien zu. Moskau droht mit Bombardements

Moskau (taz) – Das Drehbuch hätte der russischen Kaukasusliteratur des 19. Jahrhunderts entliehen sein können. Verwegen, wild, verworren und der Tragikomik auf dem Fuße folgend. Kurzum kaukasisch. Freitag letzter Woche entführten Tschetschenen den russischen General Gennadi Schpigun aus seinem Flugzeug auf der Rollbahn in Grosny. Kaum hatten sich die Kidnapper mit ihrer Geisel aus dem Staub gemacht, traf ein zweites Entführungskommando ein, das es ebenfalls auf den Moskauer Gast abgesehen hatte.

Der dem Innenministerium unterstellte General ist kein Unbekannter in der Nordkaukasusrepublik. Nach Aussagen der Tschetschenen trug er während des Krieges von 1994 bis 1996 die Verantwortung für die sogenannten „Infiltrationspunkte“ –jene Lager, in denen 1.500 Tschetschenen spurlos verschwanden.

Seit dem Waffenstillstand 1996 gehören Geiselnahmen in Grosny sozusagen zum Tagesablauf. Die arbeistlosen Warlords finanzieren auf diese Weise ihre kostspieligen Söldnertrupps, mit denen sie in dem seit dem Moskauer Vernichtungsfeldzug darniederliegenden Kaukasusflecken um die Vorherrschaft kämpfen. „Eine Zentralmacht gibt es zur Zeit nicht. Jeder herrscht über einen Flecken“, meinte ein ehemaliger Vertauter von Präsident Maschadow.

Welchem Clan und Feldkommandeur die Greiftrupps diesmal angehören, gab das offizielle Grosny zunächst nicht preis. Obgleich anzunehmen ist, daß sich selbst winzigste Details der Geiselnahme in der Bergrepublik wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Aslan Maschadow, der mit Moskau um Ausgleich bemühte Präsident, beschuldigte unterdessen gestern seinen Gegenspieler, den legendären Volkshelden Schamiil Basajew. Durch die Geiselnahme in einem russischen Krankenhaus 1995 in Budjonnowsk hatte der dubiose Haudegen die Russen zum Einlenken genötigt. Er streitet ab, beteiligt gewesen zu sein. Um Schpiguns habhaft zu werden und vor ein Scharia Gericht zu stellen, wäre er aber sogar bereit, Haus und Hof zu verkaufen, gestand Basajew gegenüber der Zeitung Kommersant gestern.

In Moskau rief der Vorfall scharfe Reaktionen hervor. Die Entführung des Repräsentanten Präsident Jelzins, Wlasow, im vergangenen Jahr wurde dazu geradezu gelassen registriert. Innenminister Sergej Stepaschin stellte Grosny ein Ultimatum und drohte, gezielt die Schlupfwinkel der Warlords bombardieren zu lassen.

Das offizielle Grosny ließ sich davon nicht einschüchtern und kritiserte Moskaus kriegerische Tonlage. Ist der Kreml bereit, sich auf ein neues Abenteuer einzulassen ? Angeblich stimmte der Kremlchef Stepaschins Wunsch zu, den für eine friedliche Lösung plädierenden stellvertretenden Minister zu entlassen und dafür den feuererprobten Wjatscheslaw Owtschinikow zu ernennen. Seine Härte gegenüber tschetschenischen Freischärlern brachte ihm den Spitznamen „Habicht“ ein.

Übrigens gehörte auch Innenminister Stepaschin im Tschetschenienkrieg zur Kriegspartei im Kreml. Da er sich der Aufgabe nicht gewachsen zeigte, mußte er nach der Geiselaffäre in Budjonnowsk gehen. Womöglich läßt sich seine Überreaktion mit der Erniedrigung damals erklären.

Damit steht er nicht allein. Auch die gedemütigte Armee könnte nach einer Endlösung suchen. Klar ist, daß Bombardements nicht die Verstecke der Warlords vernichten. Leiden wird ausschließlich die Zivilbevölkerung. Verfügen die Militärs noch über ein Fünkchen Gewissen, müßten sie sich weigern, die schlecht ausgebildeten und hungrigen russischen Bodentruppen gegen die tschetschenischen Profis in die Schlacht zu schicken. Doch war der russische Soldat nie mehr als Kanonenfutter.

Das beunruhigt, ebenso wie das Ultimatum, wodurch Moskau sich unter Zugzwang gesetzt hat. Zwar nimmt der Kreml sein eigenes Wort nicht zu ernst, es gilt aber, das Gesicht zu wahren. Überdies laufen im Kreis Stawropol an der Grenze zu Tschetschenien hektische Maßnahmen. Die Grenzbefestigungen werden verstärkt und ein Teil der Bevölkerung soll Erlaubnis erhalten haben, eine Waffe zu führen. Den innenpolitisch ratlosen Politikern mag ein Luftblitzkrieg sogar willkommen sein, um von ihrer Erfolglosigkeit abzulenken. Klaus-Helge Donath

Eine Zentralmacht gibt eszur Zeit in Tschetschenien nicht. Jeder herrscht hier übereinen Flecken