Gemeinschaftliches Mobbing

Das Okavangodelta in Botswana. Tiere bis zum Horizont. Für Forscher ein Eldorado. Doch das Objekt der Begierde ist gern renitent: geht spielen, wenn man es filmen will, oder beißt einen in die Zunge. Über die Widrigkeit des Alltags einer Affenforscherin ein Bericht  ■ von Miriam Lang

Daß so etwas wie Spurenlesen einmal ihren Alltag bestimmen würde, hätte Julia Fischer nie gedacht. Doch nun steht sie schon seit einem Jahr jeden Morgen gebeugt über dem Sandboden, auf der Suche nach dem Abdruck einer Affenhand, die ihr für den Tag die Richtung weisen soll. Oft hängt noch Frühnebel über dem Land, wenn sie sich mit Markus Metz, ihrem Lebensgefährten und Assistenten, auf den Weg in die Wildnis macht. Ausgestattet mit Ferngläsern, einer Videokamera, Aufnahmegeräten und einem Lautsprecher suchen die beiden täglich nach einer Gruppe von etwa achtzig Chacma-Pavianen, die irgendwo im Umkreis von einigen Kilometern durch die Savanne streifen.

Heute haben sie Glück. Nicht nur die Spuren, sondern auch ein entferntes Bellen weist darauf hin, daß die Tiere sich in Richtung Osten aufgemacht haben. Die ersten Wiesen in der Nähe des Flusses sind so kurzgefressen und sandig, daß sie genausogut in Brandenburg liegen könnten – wären da nicht die charakteristischen Termitenhügel, die, jeder von einem alleinstehenden Baum überschattet, wie bizarre Landmarken in den Himmel ragen. Dann führt der Weg durch dichte Waldinseln, später hüfthohes Gras, in dem die Tiere kaum noch zu erkennen sind.

Entsprechend unvermittelt taucht der erste Pavian auf. Auf allen vieren ist er etwa achtzig Zentimeter hoch, ein ausgewachsenes Männchen. Dann der nächste, und noch einer. Die ganze Horde zieht in loser Formation in ein Wäldchen. Einige Tiere klettern behende auf hohe Feigenbäume. Während oben gefressen wird, platscht ab und zu eine reife Frucht auf zwei Pavianweibchen, die sich unter dem Baum der Fellpflege hingeben und dabei wohlig grunzen. Derweil können Fischer und Metz bis auf wenige Meter herankommen, diese Gruppe ist mittlerweile an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt. Erst wenn die Forscher einem Tier direkt in die Augen sehen, fühlt es sich bedroht.

Oft müssen die beiden auf der Suche nach ihren Pavianen Umwege gehen, weil der Sand ihnen die Anwesenheit von Löwen oder Elefanten verrät, deren unmittelbare Nähe schnell zur Lebensgefahr werden kann. Auch wenn die meisten wilden Tiere sich vor Menschen fürchten, bleiben Raubkatzen, gerade wenn sie Junge haben, unberechenbar. Und: „Elefanten“, sagt Fischer, „sind zwar groß, aber trotzdem sehr leise und gut getarnt. Und vor allem schreckhaft.“ Als sie hier neu war, erzählte ihr jemand, ein Elefant habe eine Touristin zu Tode getrampelt, als diese das schlafende Tier versehentlich erschreckt hatte. In einer Gegend wie dieser merkt man sich solche Geschichten.

Erst wenn Metz und Fischer bei den Affen sind, fühlen sich die beiden relativ sicher: Achtzig Augenpaare sehen schließlich mehr als zwei, und wenn Gefahr droht, warnen die Paviane sich durch bestimmte Rufe gegenseitig. Leoparden schlagen sie durch gemeinschaftliches Mobbing und Gekreische schon mal in die Flucht.

Der derzeitige Wohnort der beiden Forscher ist das Baboon Camp. Es liegt am Rand des Moremi-Wildlife-Reservats im botswanischen Okavangodelta. Die beiden, 32 und 27 Jahre alt, haben sich am Institut für Verhaltensbiologie der Freien Universität Berlin kennengelernt. Sie erforschen hier einzelne Aspekte der Kommunikation von Pavianen. Fischer, die nach der Promotion in Berlin nun an der University of Pennsylvania in den USA angestellt ist und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, geht der Frage nach, von welchem Alter an Affenbabys einen Kontakt- von einem Warnruf unterscheiden können. Seitdem sie im Busch lebt, hat sie diese diese Projektidee öfters verflucht: Wer ausgerechnet Warnrufe auf Tonband aufzeichnen muß, kann bei Gefahr nicht das Weite suchen!

Neben den staatlichen Wildhütern sind die beiden Verhaltensbiologen die einzigen Menschen, die im Reservat leben. Das Camp, das seit den siebziger Jahren als Forschungsstation mit wechselnder Besetzung existiert, ist eine gelungene Kombination aus Einfallsreichtum und Einfachheit. Zwei geräumige, olivgrüne Zelte dienen als Schlafzimmer. Daneben steht eine luftige Küche aus Schilfrohrwänden und Maschendraht sowie eine weitere Schilfrohrhütte, die als Geräte- und Vorratskammer genutzt wird. Julia Fischer hat aus der Kammer ein kleines Feinkostlager gemacht. Eine Sammlung fernöstlicher Saucen und Basmatireis stehen hier neben mexikanischen Tortillachips und Salsa Picante oder erlesenem Rotwein aus Südafrika. Auch die Freiluftdusche ist mit wohlriechenden Fläschchen und Tuben von Clarins oder Lancôme ausgestattet. Durch derartige kleine Alltagsfreuden lassen sich die sozialen Entbehrungen, die das Leben in der Wildnis mit sich bringt, besser kompensieren, findet die junge Wissenschaftlerin. Eingekauft wird einmal im Monat, in der Stadt Maun, die mit dem Jeep in etwa vier Stunden zu erreichen ist. Der Kühlschrank wird mit Gas betrieben, und Trinkwasser gibt's aus dem Fluß. Eine kleine Solaranlage versorgt ein Funkgerät, Computer und andere technische Geräte mit Strom – zumindest an sonnigen Tagen.

Wenn in Deutschland Winter ist, ist im Okavangodelta Regenzeit. Nach meist strahlenden Vormittagen ballen sich in der schwülen Hitze dicke, schwarze Wolken zusammen und entladen sich am frühen Abend. Dabei kann die Natur recht gewalttätig werden. Vor wenigen Tagen peitschte der Sturm Hagelkörner horizontal über das Land. Fischer und Metz kauerten in ihrer Küche hinter dem Kühlschrank, während der Hagel die gestampfte Erde ringsum in einen morastigen See verwandelte. Nach dem Gewitter bot das Camp einen traurigen Anblick: Mehrere Bäume waren abgeknickt und entwurzelt, alles war übersät mit zerfetztem Laub. „Als hätte Gott ein bißchen Gras gegessen und dann ganz heftig geniest“, sagt Julia Fischer.

Die Tiere im Delta sind so allgegenwärtig, daß der Blick zum Horizont fast immer eine der verschiedenen Antilopenarten, Giraffen, Zebras oder Elefanten erfaßt. Raubkatzen, Wildhunde oder Strauße sind nur selten zu sehen, Menschenaffen wie Gorillas oder Schimpansen gibt es im wüstenreichen Botswana nicht. Dafür spielen die jungen Paviane mit Vorliebe auf den Zeltdächern Fangen. Vor einigen Wochen fraß sich ein alter Elefantenbulle mehrere Tage lang durchs Baboon Camp und richtete beträchtlichen Schaden an. Julia Fischer gesteht, daß sie manchmal der Mut verläßt, wenn die Natur sie durch die Zerstörung des Camps wieder einmal auf „Start“ zurückgeworfen hat.

Selbst nachts herrscht hier alles andere als Ruhe. Wenn nicht gerade das dumpfe Grollen der Löwen in unmittelbarer Nähe der Zelte ertönt – was keineswegs selten ist –, sorgen heulende Hyänen, trampelnde und schnaubende Impalas, Grillen, Frösche und unzählige Vogelarten für eine ständige Geräuschkulisse. Wer im Baboon Camp schlafen möchte, ist gut beraten, Julia Fischers Versicherung festen Glauben zu schenken, kein Tier habe jemals eine Zeltwand durchdrungen. Aufgestanden wird morgens um halb sechs, kurz vor Sonnenaufgang. Das ist nicht so schlimm, denn die Abende im Baboon Camp dehnen sich selten weit über 21 Uhr aus. Wie auch, wenn die kleine Solaranlage keinen Strom mehr produziert und sich um die Windlichter auf dem Tisch Trauben von wahlweise geflügelten Termiten oder rundlichen, fetten Käfern bilden. Seelenruhig fingern Metz und Fischer die Insekten aus dem Weinglas oder dem Salatteller. Auch in dieser Beziehung ist Wachsamkeit ihnen zur Gewohnheit geworden – insbesondere, seitdem Markus Metz einmal von einer schwarzen Olive kräftig in die Zunge gebissen wurde.

Überhaupt ist das Leben im Baboon Camp eine erstklassige Akademie zur Vermittlung afrikanischer Tugenden: Neben Respekt vor den Naturgewalten stehen Gelassenheit und Geduld an erster Stelle. Wenn die beiden Verhaltensbiologen ausziehen, um ihre tägliche Arbeit zu tun, können sie keineswegs sicher sein, daß der Fußmarsch sich auch lohnt. Bei den sogenannten Playbackexperimenten beispielsweise besteht das Problem zunächst darin, daß ein spezifisches Affenkind einer bestimmen Altersklasse irgendwo in der Horde gefunden werden muß. Dann wird es unter der sengenden Sonne so lange verfolgt, bis es geruht, sich irgendwo niederzulassen und Markus Metz hinter einem nahegelegenen Busch seinen Lautsprecher verstecken kann. Meist ist das Experiment hier schon wieder zu Ende, weil dem kleinen Pavian schnell langweilig geworden ist und er flugs auf den nächsten Baum klettert oder aber davonrennt, um mit seinen Kumpels zu spielen. Manchmal beschließt auch ein Männchen, die Herde genau im falschen Moment zusammenzutreiben. In Glücksfällen jedoch ertönt aus dem Lautsprecher der zuvor aufgezeichnete Warnruf, und Julia Fischer kann filmen, ob das Versuchstier eine Reaktion zeigt oder nicht. „Ich habe meterweise Videoband, auf dem außer einem ,Du kannst wieder einpacken' nichts zu hören ist“, sagt Fischer. Für ein Greenhorn jedoch grenzt allein die Fähigkeit von Fischer und Metz, einen Pavian in einer Horde scheinbar identischer Felltiere ausfindig zu machen, an Zauberei.

Zur Zeit sind drei der beobachteten Weibchen hochschwanger – Nachwuchs für neue Playbackexperimente, sofern die Neugeborenen nicht frühzeitig von Raubtieren gefressen werden oder aber von neu eingewanderten Pavianmännchen. Wenn junge Männchen nämlich ein bestimmtes Alter erreicht haben, müssen sie sich in einer fremden Gruppe in der maskulinen Rangfolge mühsam einen Platz erkämpfen. Da häufige Paarung mit möglichst vielen Weibchen das entscheidende Statussymbol ist, versuchen die Neuankömmlinge, den Nachwuchs zu töten, damit die säugenden Weibchen schneller wieder brünftig werden.

Die häufigen Machtkämpfe in der Gruppe, bei denen die Männchen entweder die Weibchen jagen und „verprügeln“ oder unter markerschütterndem Gebrüll Beißkämpfe untereinander austragen, machen es der Feministin Julia Fischer leicht, gegenüber ihren Versuchstieren die wissenschaftliche Distanz zu wahren.

Julia Fischer wäre nicht in jedes beliebige afrikanische Land gegangen, um Affen zu erforschen. Politik spielt auch eine Rolle. „Wenigstens“, sagt sie über Botswana, „gibt es hier keine extreme Armut unter den Schwarzen.“ Botswana gilt als afrikanische Erfolgsstory: Ein kostenloses staatliches Gesundheits- und Schulsystem – 97 Prozent der Kinder besuchen immerhin die Grundschule – garantieren ein im afrikanischen Vergleich mildes soziales Gefälle. Trotzdem fällt es der jungen Frau, die früher in Berlin ehrenamtlich in einer Initiative gegen Rassismus mitgearbeitet hat, nicht leicht, sich bei ihren regelmäßigen Fahrten nach Maun in eine weitgehend nach Hautfarben getrennte Gesellschaft einzuordnen.

Jeden Abend hört Julia Fischer BBC World Service über einen kleinen Weltempfänger und hat auch im Busch verschiedene Wochenzeitungen abonniert, die zusammen mit der Post per Cessna in ein nahe gelegenes Safaricamp geflogen werden.

Der Alltag draußen in der Wildnis erspart den beiden Wissenschaftlern sicherlich so manchen kulturellen und sozialen Widerspruch, mit dem sie in der Stadt konfrontiert wären. Andererseits ist auch das Leben in exklusiver Zweisamkeit für eine Frau und einen Mann, die in Berlin als echte Stadtmenschen immer unterwegs waren, eine echte Herausforderung: „Manchmal, wenn wir hier mal wieder sitzen und alles schon gesagt ist, würde ich die Welt geben für einen guten Kinofilm“, sagt Fischer.

Miriam Lang, 31, freie Autorin aus Berlin, promoviert an der Freien Universität Berlin über Gewalt gegen Frauen in Mexiko und Brasilien