Countdown to death

■ Im Gesang konzentrieren sich die Extreme: Diamanda Galás trat in der Passionskirche auf

Diese Frau schenkt sich nichts und dem Publikum alles: gesungenes Entsetzen, mit Stimme herausgeschleuderter Wahnsinn, Verzweiflung, Wut. In blaues Licht getaucht, sitzt Diamanda Galás am Flügel vor dem Kruzifix und schreit in konzentrierter Ekstase gegen den Tod auf dem elektrischen Stuhl an.

Kunst und Leben ist der klassisch ausgebildeten Sängerin und Musikerin eins. Schmerz soll als Schmerz wiedergegeben werden, Krankheit und Tod als das äußerste Gefühl der Isolation, Leidenschaft als ekstatischer Moment bitterster Illusion. Gestützt wird ihr qualvoller Gesang, bei dem sie Töne abrutschen läßt in die dunkelsten Tiefen ihrer mehr als drei Oktaven umfassenden Stimme und sie sprunghaft und heulend wieder hochzieht, durch Musik, die an Gospels, Liturgien oder auch Soul und Blues erinnert.

Die Amerikanerin griechischer Herkunft macht seit fast zwanzig Jahren eine Musik, „die nicht von einer Sache handelt, sondern die Sache selbst ist“. In ihren früheren Performances öffnete sie sich dem Publikum in ihrer ganzen Verletzlichkeit: nackt manchmal, in Schweiß und Blut und Angst. Vorbei ist die Zeit, als ihr Gesang und ihre Auftritte ihr den Ruf einer Hexenpriesterin, Satansbraut, Meisterin der schwarzen Messe einbrachte. Dies vor allem, weil sie nicht selten Bibeltexte vertont hatte. Dabei versteht sie ihre Musik immer als ein politisches Statement gegen die physische und psychische Zerstörung des Menschen. Viele ihrer Arbeiten sind dem Kampf gegen Aids gewidmet. Ihr neues Album, „Malediction and prayer“, führt auf eine fast zärtliche Weise Galás musikalische Quellen und ihre Themen zusammen. So ersetzt die Passionskirche den rituellen Charakter der Performances. Die körperlichen Extremerfahrungen verlegt die Künstlerin in den Gesang und die unbedingte Konzentration, mit der sie sich selbst am Flügel begleitet.

Sie singt Gedichte von Leuten, denen sie sich verwandt fühlt wie Baudelaire und Pasolini, sie mischt Gospel und Jazz, zitiert für wenige Takte Klassik, aber auch Rockmusik. Die Brüche und Widersprüche, mit denen sie arbeitet, finden auf der musikalischen Ebene statt. Während sie beim letzten Konzert, zusammen mit dem Led-Zeppelin- Bassisten John Paul Jones, der Rockmusik ihre Selbstvergessenheit nahm, ist sie dieses Mal beinahe eine Chansonsängerin. Ihr Reigen, auf den sie das Publikum mitnimmmt, ist jedoch eher ein Kettenkarussell. Brillant beleuchtet, ist sie mal Mensch in Rot, in Blau, in Gelb. Nur Grundfarben. Keine Zwischentöne. Mit der Frau auf dem elektrischen Stuhl hat Diamanda Galás ihren Auftritt begonnen. In ihrem letzten Lied wird sie den Countdown der Minuten singen, die ihr, aber auch ihr und ihr und ihr... noch bleiben. Atemberaubend. Waltraud Schwab