Von der Polit-Diva zum Kanzlermacher

■ Unter Hintanstellung seiner persönlichen Ziele hat Oskar Lafontaine der SPD wieder Selbstvertrauen und den Willen zur Macht zurückgegeben und Gerhard Schröder die Kanzlerschaft ermöglicht. Mit seinem Rücktritt hat er jetzt die Frage beantwortet, ob man mit diesem Kanzler auch Politik machen kann

Wie lange kann man in der Politik, in einem Spitzenamt gar, öffentliche Selbstverleugnung zum Programm erheben? Die Frage läßt sich generell schwer beantworten, im Falle Lafontaines dagegen ziemlich genau: gut zwei Jahre. Im Frühsommer 1997 wurde es in der SPD ernst mit der Debatte, wer als Kanzlerkandidat die Sozialdemokraten in die Wahl im September 1998 führen soll. Bis zu diesem Zeitpunkt galt innerhalb der Partei der Spruch: der Vorsitzende hat den ersten Zugriff. Seit Oskar Lafontaine im November 1995, auf einem der turbulentesten Parteitage in der 120jährigen SPD-Geschichte, den Vorsitzenden Rudolf Scharping hinwegfegte, stand er in den Startlöchern. Lafontaine, daran konnte kein Zweifel bestehen, wollte Kanzler werden.

Gleichzeitig mußte Lafontaine, der Mann, der die Partei in den zwei Jahren, seit er den Vorsitz übernommen hatte, wieder arbeitsfähig gemacht hat, der Mann, der einen politischen Willen und eine klare Vorstellung davon hatte, warum die Republik einen sozialdemokratischen Kanzler braucht, gleichzeitig mußte er mit ansehen, wie die Umfragewerte seines Konkurrenten Schröder beinahe täglich anstiegen.

In diesen Tagen begann die Selbstverleugnung des Oskar Lafontaine. Öffentlich wurde die Freundschaft mit Schröder inszeniert, der sportliche faire Wettkampf um die Kanzerlkandidatur begann die Zeitungsspalten zu füllen, und obwohl Lafontaine wußte, daß ein gutes Ergebnis bei den Landtagswahlen in Niedersachsen im März 1998 Schröder endgültig den Weg ins Kanzleramt frei machen würde, tat er alles, um diesen Sieg möglich zu machen. Ausgerechnet der Mann, dem jahrzehnte ein Image als Polit-Diva, als Enfant terrible der SPD, als Saar-Napoleon und Provinzdespot anhing, ausgerechnet dieser Mann stellte seine Person ohne Einschränkung hinter den Erfolg seiner Partei.

Diese Einsicht mußte Lafontaine einiges gekostet haben. Schließlich wäre für ihn ein Sieg über Kohl weit mehr als ein Sieg seiner Partei, es wäre eine persönliche Rehabilitierung für die schlimmste Kränkung seines Lebens gewesen. Schon einmal, zu Beginn des Jahres 1989, hatte Lafontaine sich als sicherer Sieger im Kanzleramt gesehen. Doch Lafontaine gehörte zu den deutschen Spitzenpolitikern, die am allerwenigsten damit gerechnet hatten, daß im November 1989 die Mauer fiel. Der Mann war ein überzeugter Anhänger der Bundesrepublik und machte im Taumel der deutsch-deutschen Begeisterung keinen Hehl daraus, daß eine Vereinigung der beiden Staaten, vor allem eine schnelle Vereinigung, enorme wirtschaftliche und kulturelle Probleme mit sich bringen würde.

So richtig seine Einschätzung war, im deutschtümelnden Wiedervereinigungsjahr 1990 kostete ihn diese Haltung den ein Jahr zuvor sicher geglaubten Wahlsieg und um ein Haar auch das Leben. Bei einer Wahlkampfveranstaltung im April 1990 wurde er von einer geistesgestörten Frau mit einem Messer angegriffen und am Hals lebensgefährlich verletzt. Obwohl er sich relativ schnell erholte, verlor er in dieser Phase auch die Kontrolle über die Partei und die Unterstützung seines Mentors Willy Brandt, der sich lieber als beliebtester gesamtdeutscher Politiker feiern ließ, statt seinem Nachfolger den Rücken frei zu halten, solange dieser im Krankenbett lag. Es ist diese Phase, die aus Lafontaine einen dünnhäutigen, mißtrauischen Politiker gemacht hat. Antje Vollmer, die, obwohl von der politischen Konkurrenz, ihn damals mehrfach besuchte, erzählte später, Lafontaine sei kurz davor gewesen, aus der Politik völlig auszusteigen.

Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre war der SPD-Landesvorsitzende aus dem Saarland derjenige, der sich am deutlichsten traute, seinem Kanzler Helmut Schmidt die Meinung zu sagen. Der von Schmidt vehement verfochtene Nato-Nachrüstungbeschluß zur Aufstellung von Pershing-II-Raketen und Cruise-Missiles in Deutschland und der Glaube an die zivile Nutzung der Atomernergie wurden von dem gelernten Physiker Lafonaine scharf kritisiert. Den Spruch, Schmidt versammle in sich alle guten deutschen Sekundärtugenden, die auch die KZ-Wächter ausgezeichnet hätten, hat ihm der Ex-Oberleutnant nie verziehen. Doch seit die SPD auf einem Bundesparteitag 1983 mit einer mehrheitlichen Ablehnung der Nachrüstung das Ende der Regierung Schmidt einläutete, war Lafontaine im Kommen. Bis zu jenem 9.November 1989. Lafontaine hat sich nach seiner Niederlage bei den Bundestagswahlen im Dezember 1990 bis zu seinem Comeback in Mannheim im November 1995 bundespolitisch lange zurückgehalten. Er hat mit angesehen, wie die SPD unter Engholm und Scharping zerfledderte und politisch in die Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte. Wahlergebnisse wie in Berlin, wo die Partei bei 23 Prozent landete, schienen Ralf Dahrendorfs Prognose vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts zu bestätigen.

Der geläuterte Lafontaine von 1995 hat der Partei wieder neues Selbstvertrauen gegeben. Er hat sich gegen die politische Beliebigkeit seiner beiden Vorgänger gestemmt, hat klar gemacht, daß Sozialdemokraten eben darum Sozialdemokraten sind, weil sie eine soziale Verantwortung haben und Politik nicht als Selbstzweck betreiben. Diese Überzeugung hat er im Wahlkampf vertreten, und mit dieser Überzeugung ist er Mitglied der Bundesregierung geworden. Gerade weil er wußte, daß Gerhard Schröder diese Überzeugung nicht teilt, war sein Verzicht auf die Kanzlerkandidatur eben auch ein großes Stück politische Selbstverleugnung. Von Schröder stammt der Satz: Man kann keine Politik gegen den Kanzler machen. Lafontaine ist der erste aus seiner Regierung, der für sich jetzt die Frage beantwortet hat, ob man mit diesem Kanzler Politik machen kann. Jürgen Gottschlich