Fischer joggte durch ins Kanzleramt

■ Wie der Rücktritt die Grünen überraschte: Mürrischer Schlauch weigert sich, ins Kanzerlamt zu kommen. Nur der vielkritisierte Trittin ahnte etwas

Joschka Fischer hatte sich gerade warm gelaufen, da wurde ihm bei Kilometer fünf am Rheinufer von einem Sicherheitsbeamten ein Handy gereicht. Am anderen Ende war der Kanzler höchstpersönlich. Er solle bitte schnell kommen. Dringend! Fischer trabte also in voller Montur weiter ins Kanzleramt. Dort erfuhr der Außenminister, was kein Akteur in Bonn erwartet hatte: Lafontaines Rücktritt von allen seinen Ämtern.

Nur manchen plagten offenbar böse Vorahnungen. Umweltminister Jürgen Trittin zum Beispiel meldete sich auf dem Rückweg von Brüssel telefonisch bei Rezzo Schlauch. Ob da was in Bonn im Busche sei, fragte Trittin den Fraktionschef. Schlauch wußte von nichts, der gewichtige Schwabe hatte anderes im Kopf. Zusammen mit grünen Spitzenleuten saß er zu diesem Zeitpunkt in einer Vorbereitungsrunde für das Treffen im Kanzleramt. Dort wollten um 20 Uhr die Spitzen von SPD und Grünen mit dem Kanzler den Kompromiß zum Staatsbürgerschaftsrecht besprechen.

Schlauch war kurz angebunden, das mußte auch das Kanzleramt feststellen. Ohne Details zu nennen, hatte man ihn gebeten, schnellstens zu erscheinen. Doch Schlauch verwies auf sein Vorbereitungstreffen. Das könne er nicht verlassen. So kam es, daß der Fraktionschef der Bündnisgrünen erst durch Außenminister Fischer vom Rücktritt Lafontaines erfuhr.

Wer mit wem irgendwo auftritt, das deutet gerade bei den Bündnisgrünen auf mögliche Allianzen hin. Um 20.20 Uhr rauschte Fischer mit seiner Limousine vor das Kanzleramt. An der Meute der Journalisten und Kameramänner vorbei schlich er, jetzt wieder im gewohnten Zweireiher, durch einen Nebeneingang ins Gebäude, hinter ihm versuchten Schlauch und Fritz Kuhn, das Tempo zu halten.

Die Anwesenheit von Kuhn, eines Gefährten von Fischer und ausgewiesenen Realpolitikers, löste sofort Spekulationen aus. Kuhn, Fraktionschef der Grünen in Baden-Württemberg, war bereits nach der Bundestagswahl als Regierungsmitglied gehandelt worden. Nun könnte sich ihm eine unverhoffte Chance bieten — als Staatssekreträr in einem scheidenden hessischen Ministerpräsidenten Eichel (SPD) geführten Bundesfinanzministerium.

Am späten Abend saß Kuhn, bewaffnet mit einem Handy, in einer Ecke des italienischen Stammrestaurants der Realos, dem „Pelato“ im Stadtteil Kessenich. In einem anderen Raum an zwei Tischen andere Spitzen der Bündnisgrünen die Köpfe zusammen. Gesundheitsministerin Andrea Fischer gestikulierte mit und gegen Schlauch, neben ihr sprach unentwegt Kristin Heyne, parlamentarische Geschäftsführerin und Steuerexpertin, in ihr Handy. Am zweiten Tisch blickte der Pressesprecher der Fraktion, Dietmar Huber, ernst drein. Joschka Fischer analysierte kühl die Lage. Je länger der Abend dauerte, um so tiefer rutschte Matthias Berninger, der hessischer Parteichef werden will, tiefer seinen Stuhl hinunter. Kurz nach Mitternacht hatten die Grünen von der Lageanalyse genug. Manch einer lachte gar schon wieder. „Die Rechnung bitte“, rief Joschka Fischer. Dicht folgte ihm Realokollege Kuhn. Vielleicht sieht man ihn ja demnächst öfter im „Pelato“. Severin Weiland, Bonn