Sekt und Jubel an der Börse

■ Während die Industrie jubelt, sind die SPD-Linken über Lafontaines Rücktritt bestürzt. Was tatsächlich im Kanzleramt vorgefallen ist, darüber wird spekuliert. Der Kanzler jedenfalls hatte schnell einen Nachfolger parat. Hessens Ministerpräsident Hans Eichel wird neuer Finanzminister

Die Börse schießt in die Höhe, die Energiewirtschaft wittert ein „hoffnungsvolles Signal“, Leitartikler halten den Kanzler für gestärkt – aber einer seiner engsten Vertrauten sitzt wie versteinert vor Journalisten in Bonn: „Betroffenheit“ habe der Rücktritt von Oskar Lafontaine ausgelöst, sagt Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye mit Grabesstimme. Es habe „keinerlei Anzeichen in diese Richtung“ gegeben.

Das mühsame Ringen um Fassung wirkt echt. Ein Rückzug des wichtigsten Ministers von allen politischen Ämtern nach nur 168 Tagen: Das läßt sich schwer als Sieg verkaufen. 60 Prozent der Bevölkerung glauben einer Allensbach- Umfrage zufolge nicht mehr an einen Erfolg der Regierung bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Gerhard Schröder dürfte sein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht gefrieren.

Der Bundeskanzler muß sein Haus jetzt schnell in Ordnung bringen – aber wann soll er das machen? Die ganze nächste Woche tourt er als EU-Ratspräsident durch die Hauptstädte Europas. Die Termine lassen sich so kurz vor dem Gipfeltreffen Ende März in Berlin nicht mehr verschieben. Noch steht nicht einmal fest, wann ihm sein neuer Finanzminister zur Verfügung stehen wird. Die Amtszeit von Hans Eichel als hessischer Ministerpräsident endet erst am 19. April.

Kommissarisch wird Wirtschaftsminister Werner Müller die bisherigen Aufgaben von Lafontaine im Kabinett wahrnehmen. Bereits am Montag vertritt er die Bundesrepublik beim Treffen der EU-Finanzminister in Brüssel. Mindestens vorübergehend fallen jetzt in seinen Verantwortungsbereich auch die Europaabteilung und die Grundsatzabteilung, die Lafontaine vom Wirtschafts- ins Finanzministerium geholt hat. Vorübergehend? Müller mag die Gunst der Stunde nutzen.

Noch ein weiterer Minister hat Grund zur Freude. Es gibt späte Siege. Einst stieß Lafontaine den SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping vom Thron – jetzt sieht es so aus, als habe Verteidigungsminister Scharping seinen Anteil an der Entscheidung des Finanzministers zum Rücktritt gehabt. Eine allen Ressorts verordnete Minderausgabe von 0,5 Prozent für den Haushalt 1999 lehnt er ebenso kategorisch ab wie eine Eigenbeteiligung der Hardthöhe am millionenschweren Kosovo-Einsatz. Scharping stieß am Mittwoch bei einem Treffen mit Schröder und Lafontaine auf heftigen Widerstand des Finanzministers, fand jedoch Rückendeckung beim Kanzler.

Dem Vernehmen nach soll Lafontaine sogar versucht haben, von seinem Vetorecht als Finanzminister Gebrauch zu machen. Vergeblich. Einmal mehr sah sich der Herr der Kasse als Knecht der Verhältnisse. Dabei blieb ihm ohnehin kaum noch Spielraum bei der Haushaltsgestaltung angesichts unabweisbarer Mehrausgaben, wie sie durch das Familienurteil des Bundesverfassungsgerichts entstehen, geringer Steuereinnahmen und der engen Begrenzung der Neuverschuldung im Rahmen der EU-Finanzordnung. „Die Regierungsarbeit steht in der Kontinuität der gemeinsam gefaßten Beschlüsse.“ Damit weist Heye alle „Spekulationen“ über Veränderungen der Steuerreform zurück. Aber der Satz könnte sich in viel weitergehender Hinsicht als dauerhaft wahr erweisen. Fachleute in Bonn halten den regierungsinternen Grundsatzstreit über nachfrage- oder angebotsorientierte Politik angesichts der knappen Mittel für eine recht künstliche Kontroverse.

„Vielleicht schauen alle ganz verschüchtert auf einen stärker gewordenen Kanzler Schröder“, mutmaßte ein ZDF-Moderator am Donnerstag abend im Blick auf das Klima der gerade stattfindenden Koalitionsrunde. Aber in Bonn ist umstritten, wie mächtig der Regierungschef nun wirklich sein wird. „Die Stärke liegt in seinem Amt“, glaubt ein Regierungsmitglied. „Gegen einen führungsstarken Kanzler kann in diesem Land keine Politik gemacht werden.“ Andere aber meinen, Schröder müsse nicht weniger, sondern mehr Rücksicht als zuvor auf die eigene Fraktion und den Koalitionspartner nehmen, nachdem Lafontaine den Bettel hingeworfen hat.

Bündnis 90/Die Grünen können sich zum ersten Mal seit Monaten bei Problemen der Regierung gelassen geben. Hartnäckig halten sich Gerüchte, denen zufolge mit Fritz Kuhn ein Landespolitiker aus ihren Reihen Staatssekretär im Finanzministerium werden soll. Eichel scheint diesem Vorschlag bislang skeptisch gegenüberzustehen, zugleich gilt es aber als unwahrscheinlich, daß er Lafontaines Mitstreiter Heiner Flassbeck und Claus Noe übernehmen wird.

Böse Zungen sagen, daß die Rolle des bündnisgrünen Umweltministers Jürgen Trittin erheblich gestärkt sei. Er könne jetzt als einziger für Schröder den Schurken geben. Aber ob das für geschickt in den Medien plazierte Schuldzuweisungen reicht? Mit solchen wird sich der Kanzler künftig schwerer tun, wenn in der Koalition etwas schiefläuft. Und eine ganz breite Auswahl an Koalitionspartnern hat er derzeit offenbar auch nicht: „Die FDP ist ganz bestimmt nicht das Reserverad gegen den rot-grünen Totalschaden.“ So deren Generalsekretär Guido Westerwelle. Bettina Gaus, Bonn