Hertiedämmerung

Nach mehr als hundert Jahren: Das freundliche Kaufhaus am Halleschen Tor hat für immer seine Pforten geschlossen  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Seit ein paar Jahren schließt der Karstadt-Konzern Häuser und baut Personal ab. Um mehr Geld zu scheffeln, wie Insider vermuten, hat man in West-Berlin in den letzten Jahren sechs angeblich defizitäre Kaufhäuser geschlossen. Von 12.000 Mitarbeitern in den 80er Jahren sind nur noch 5.000 übriggeblieben.

Am 12.3.99 gegen 18.53 Uhr verließen auch die letzten Kunden das traditionsreiche Hertie-Kaufhaus am Halleschen Tor, und die Hertie-Pforten schlossen sich das letzte Mal hinter ihnen. Von den 140 Angestellten sind 100 entlassen worden. Später am Abend überlegten wir beim Scrabblespiel, das ich mal bei Hertie gekauft hatte, ob das Wort „Qwut“, als moderne Steigerungsform von Wut, dem unrühmlichen Abschied von Hertie angemessen sei.

Im Herbst 1898 war der Grundstein für das Kreuzberger Haus gelegt worden, das im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört und 1952 wiederaufgebaut worden war. Oskar Tietz hatte seine Kaufhaus-Dynastie mit einem Darlehen seines Onkels Hermann begründet. Anfangs hießen seine Häuser noch „Hermann Tietz“; 1933 machten die Nazis „Hertie“ daraus. Hertie gehört mittlerweile zu Karstadt, dem einzigen Kaufhauskonzern, dessen Gründer keine Juden waren.

Eigentlich hatte man im letzten Jahr den hundertsten Geburtstag des elegant gerundeten Baus mit Verlosungen, Sonderangeboten und einer Fotoausstellung zur Geschichte des Hauses feiern wollen. Darauf verzichtete man, nachdem die Schließung angekündigt worden war. Zehn Jahre lang war Hertie mein Lieblingskaufhaus, und vor allem das Hertie-Restaurant mit Blick aufs Hallesche Tor war ein Ort angenehm wehmütiger Melancholie mit Zeitunglesen.

Im Sommer wurde das Ende bekanntgegeben. Trauertrunken war das Haus seitdem. Wildgewordene Auflösungstendenzen sprangen einen immer wieder an. Jeden Tag schien es in der Lebensmittelabteilung weniger Einkaufswagen zu geben. Eine gewisse Lustlosigkeit machte sich breit. Selbst die sonst oft fröhliche korpulente Frau an der Käsetheke und die kräftigen Detektive an den Eingängen wirkten im späten Herbst schon leicht desinteressiert. Die letzten zwei Monate dominierte der Ausverkauf mit Verramschungstendenzen. Regelrecht schockiert war ich, als am 20.2. die Lebensmittelabteilung die Flinte ins Korn warf. Wurst-, Käse-, Fleisch- und Fischtheken waren verwaist und auch leer. Markenartikel wurden zu Spottpreisen verkauft. (So stirbt der Kapitalismus mit jedem Tag ein wenig mehr.)

Lustlos hatten die Angestellten „Sonderpreise“ verklebt. Im Sonderangebot kosteten nun ein paar Weine, die man regulär für 7,99 kaufen konnte, nun 10,99. Aus Versehen nahm ich einen Apfel mit, ohne ihn zu bezahlen, was ich sehr lange nicht mehr gemacht hatte. Ich schämte mich weder für den Diebstahl noch für seine Albernheit. Am 8. März, dem Frauentag zum Hohn, war die dritte Etage plötzlich auch nicht mehr da. Zugesperrt. Ohne tschüs zu sagen. Stillos!!! Würdelos!! Sie wäre sich so vorgekommen wie eine Leichenfledderin, sagte eine Freundin, die zuvor immer und nun nie mehr zu Hertie gehen wird. Blutverschmiert und wie Fetzen stinkenden Fleisches hingen die Reste da, die keiner mehr haben wollte.

Den Happy-hours, die es nun gab, fehlte die Fröhlichkeit, obgleich viele Produkte nur noch 50 bis 70 Prozent kosteten. Kunden verloren jede Zurückhaltung und rissen wie wilde Wölfe Packungen irgendwelcher Waren auf, um sie genauer beschnuppern zu können. Ältere Kunden unterhielten sich mit älteren Verkäuferinnen über das, was nun wird, und endeten gewöhnlich mit Klagen über die allgemeine Situation.

Kurzfristig verlegte man das für den 13.3. annonncierte Ende von Hertie auf den 12. „Wir haben das auch erst heute erfahren“, so eine Mitarbeiterin. Die Vibrationen waren am letzten Tag nicht so gut. Zu kaufen gab es im Prinzip eh nur noch 3-D-Puzzles, alberne „Hallo- Deutschland“-Masken und ein paar tausend CDs aus der Funk- und Fernsehwerbung. Ein Mitarbeiter mit hamburgischem Akzent sagte, er wäre mal mit der Theo- Waigel-Maske in eine Bank gegangen. Niemand lachte. Im Restaurant schienen die Portionen größer und wurden einem an den Tisch gebracht. Wie zum Hohn schien die Sonne so schön wie lange nicht mehr. Irgendwann wird man erkennen, daß man Arbeitslose und Vorruheständler nicht essen kann! Fürs Personal gibt's heute Kaffee gratis! Ich schaute aus dem Fenster und fühlte mich „so lonely“. Auch ich war einmal Hertie!

Eine Oma ließ die Hälfte ihres Gulaschs stehen. Die sehr netten „Le Buffet“-Betreiber werden nun erst mal schön Urlaub machen. Ich kaufte mir zwei sinnlose CDs zum Abschied. „Ab morgen ist das Haus ganz zu. Dann gibt's uns gar nicht mehr“, sagte eine Verkäuferin. Der Einrichtungsmarkt Domäne wird das alles übernehmen. Ich geh' ab jetzt zu Fox!