„Es muß ein Wunder geschehen“

Nach Lafontaines Rücktritt fürchten die Berliner Genossen um ihre Wahlchancen im Herbst. SPD-Spitzenkandidat Momper soll jetzt den Wechsel verkörpern  ■ Von Dorothee Winden

Ein düsteres Szenario drückt den Berliner GenossInnen mächtig auf die Stimmung: „Es muß schon ein Wunder geschehen, sonst wird es nach der Berliner Wahl am 10. Oktober wieder eine große Koalition geben“, gibt ein Genosse die weitverbreitete Einschätzung wieder. Mit dem Rücktritt von Oskar Lafontaine sind die Chancen eines rot-grünen Wechsels an der Spree rapide gesunken. (Siehe Text nebenan.)

Der innerparteiliche Wahlkampfauftakt mit Lafontaine in der Volksbühne am vergangenen Dienstag erweist sich im nachhinein als äußerst mißlich. Lafontaine, den 700 Genossen trotz seines drögen Grundkurses über Wirtschaftspolitik begeistert gefeiert hatten, ist abgetreten. Dieser Auftritt sollte sein letzter werden, „ein unglücklicher Auftakt“, heißt es innerparteilich. Er sollte die Mitglieder motivieren, statt dessen, so das Bild, das ein Genosse wählt: „wurde ein Luftballon aufgeblasen, den Lafontaine mit der Nadel zum Platzen gebracht hat“.

Was nun? Ein wenig hilflos wirkt die Ankündigung einer großangelegten Briefaktion an die 21.000 Berliner Mitglieder. Die SPD-Führung will die von Lafontaines Rücktritt Enttäuschten für den Wahlkampf mobilisieren. Ein Trostpflaster, das nur begrenzte Wirkung haben dürfte.

Gebraucht wird eher eine „Wunderwaffe“. So gibt es Überlegungen, den SPD-Spitzenkandidaten Walter Momper stärker in den Vordergrund zu stellen. Er soll sich als eigenständig präsentieren. Das Kalkül: Als der einzige führende SPD-Politiker, der nicht in die Große Koalition eingebunden ist, kann er noch am ehesten Wechselstimmung erzeugen. Doch die Crux der SPD bleibt. Sie muß den Wechsel propagieren, an den zu glauben immer schwererfällt.

Denn ohne Mehrheit für eine rot-grüne Regierung will die SPD die Große Koalition fortsetzen. Eine Tolerierung durch die PDS komme unter keinen Umständen in Frage, hieß es gestern unisono. Ebenso einmütig klangen gestern die Versuche der Selbstversicherung: Schließlich sind es noch sieben Monate bis zur Wahl, da könne noch viel geschehen.

Doch schon 1995 verhagelte das schlechte Bild, das die zerstrittene Bundes-SPD abgab, den Berliner Genossen das Wahlergebnis. „Wir sind auf Gedeih und Verderb angewiesen, daß sich das Erscheinungsbild der rot-grünen Bundesregierung verbessert“, meinte gestern SPD-Vize Klaus-Uwe Benneter. „Wir dürfen uns davon nicht verrückt machen lassen. Wir müssen unser Profil schärfen.“ Für Dienstag hat der Landesvorstand eine außerordentliche Sitzung des Landesausschusses einberufen.

Lafontaine hinterläßt ein Vakuum in der Partei.

„Man fühlt sich im Stich gelassen“, sagt der Parteilinke Benneter. „Zornig“ sei er darüber, daß Lafontaine die Brocken hingeworfen habe, und er könne es auch nach dessen gestriger Erklärung „nicht nachvollziehen“. Doch sorgen zwei Umstände dafür, daß das Vakuum nach Lafontaines Rücktritt in Berlin nicht so spürbar wird: Hier haben ohnehin die Modernisierer die Oberhand. In der vierköpfigen Führungsriege sind mit Walter Momper, Parteichef Peter Strieder, Fraktionschef Klaus Böger und Finanzsenatorin Fugmann-Heesing ausschließlich Modernisierer vertreten. Zudem ist der Landesverband schon seit 1993 Schröder-orientiert. Damals votierten die Berliner GenossInnen bei der Urabstimmung Schröder/ Scharping für Schröder als Kanzlerkandidaten. Außer in Berlin konnte Schröder nur noch in Niedersachsen punkten.

Ob die Berliner SPD die Wahl noch gewinnen kann, hängt nun stark an Schröder. Der SPD-Linke Matthias Linnekugel meint: „Wahlentscheidend ist nicht Lafontaines Abgang, sondern ob es Schröder gelingt, die SPD hinter sich zu bringen und die Arbeitslosenzahlen zu senken.“