Identitätsdebatten auf dem Friedhof

Gegen glatte Biographien: Feridun Zaimoglu dreht in Ohlsdorf mit Lars Becker. Eine Kampfrede, auf dem Set aufgezeichnet  ■ Von Malte Hagener

Nur mit der Kultur kann man die große Welle machen“, sagt Feridun Zaimoglu voller Begeisterung und singt eloquent das etwas aus der Mode gekommene Loblied auf die gesellschaftliche Sprengkraft der Kunst. Wir sitzen im „Sprechraum für Angehörige“ der Kapelle 10 auf dem Ohlsdorfer Friedhof, der zum Interviewzimmer umfunktioniert ist. Vor der Tür entsteht gerade der Film Kanak Attack nach Zaimoglus Buch Abschaum. Die wahre Geschichte des Ertan Ongun, gemeinsam mit Regisseur Lars Becker und Bernhard Wutka schrieb der Autor auch das Drehbuch. Die Wörter sprudeln unaufhörlich und rhythmisch aus ihm heraus, seine Sätze schlagen Haken – und dennoch millimetergenau in ihrem Ziel ein.

Die Gedankensprünge haben Methode, denn er will sich nicht auf eine Position, eine einfach beschreibbare Methode festlegen lassen. „Identitäten sind doch nur Aufenthaltsräume, die man nach Belieben wechselt. Wer hat nur eine Identität, wer hat eine glatte Biographie ohne Risse und Brüche?“

Draußen herrscht konzentrierte Betriebsamkeit, und inzwischen ist die erste Szene des Tages vorbereitet. Immer wieder schreitet der Hodscha, der islamische Bestattungsgeistliche, der auch im wirklichen Leben diese Rolle spielt, pinguinartig über die Wiese und bittet Ertan zur traditionellen Leichenwäsche herein. Luke Piyes spielt die Hauptrolle des Ertan, 1995 wurde er als erster türkischstämmiger Deutscher zum „Gesicht des Jahres“ gewählt, und seine Karriere ist typisch für die meisten Mitwirkenden, die keine klassische Darsteller-Biographie – also erst Schauspielschule und dann Theater – haben, sondern über Musik, Werbung und Fernsehen hier ihre erste große Rolle landen konnten. Tyron Ricketts beispielsweise wurde als Musiker bekannt und moderiert bei VIVA seit 1996 die Sendung Wordcup. Seine Anwesenheit ist auch ein Zugeständnis an ein jugendliches Publikum, denn seine Figur ist dem Buch gegenüber hinzugefügt.

Und doch, so erläutert Zaimoglu, ist dies kein Nachgeben gegenüber der Produktionsseite, sondern gehört zum Konzept des Films, denn „Medienpolitik ist Identitätspolitik“. Inzwischen erzählt er als Zeit-Kolumnist im Wechsel mit Maxim Biller unter der Überschrift „Junges Deutschland“ skurrile Alltagsgeschichten: „Natürlich hat mich das Establishment längst zu fassen, aber man muß immer wieder seine Position wechseln. Ich bin doch nicht Sprecher des türkischen Verbandes, ich habe viele Messages und Lebensentwürfe.“

Angst vor einem künstlerischen Ausverkauf hat er keine, dazu hat er seine Guerilla-Taktik, Positionen kurzzeitig zu besetzen, ein paar gut gezielte Attacken loszulassen und ebenso schnell wieder bei einem anderen Thema zu sein, zu sehr perfektioniert. Er beherrscht die Identitätsdebatte der Neunziger ebenso fließend wie den Straßenslang, den soziologischen Diskurs wie den HipHop-Reim. Seine Medienpräsenz von Jungle World bis taz, von Zeit bis Newsweek pendelt zwischen Subversion und Anpassung.

Kanak Attack berichtet in 13 biographischen Splittern vom Leben des Ertan Ongun im multi-ethnischen Unterschicht-Milieu Deutschlands. „Es galt eine Balance zu finden zwischen einer herkömmlichen Charakterpsychologie und der Beibehaltung der frei beweglichen Teile. Die Hauptperson ist so mehrdeutig und flexibel, daß für den Zuschauer der Reiz besteht, diese Person jenseits ethnischer Zuschreibungen zu verstehen“, so Co-Autor Bernhard Wutka. „Aber völlig austauschbar sind die einzelnen Stücke auch nicht, sonst wäre es ja Ertan rennt“, ergänzt Zaimoglu in Anspielung auf den erfolgreichen Pop-Film Lola rennt. Und Herstellungsleiter Simon Happ: „Auf keinen Fall soll es ein soziales Problemstück mit erhobendem Zeigefinger werden. Der Film soll Spaß machen, aber auch Kontroversen auslösen.“

Feridun Zaimoglu legt ein großes Arbeitspensum vor: Am Vortag absolvierte er seinen Gastauftritt in Kanak Attack als „abgefuckter Junkie“, ansonsten steht seine schriftstellerische und journalistische Arbeit im Vordergrund, aber auch weitere Drehbücher und Musikprojekte sind geplant. „Ich tanze auf vielen Hochzeiten, das gilt in Deutschland immer noch als negativ, aber wo die Musik spielt und wo Party ist, da geh' ich eben hin.“