Mit Serbien immer – unter Serbien nie

Montenegro, der kleinere Partner im jugoslawischen Staatsverband, hat lange an der Seite Serbiens gestanden. Jetzt gehen die Montenegriner immer deutlicher eigene Wege und fordern das Regime in Belgrad heraus  ■ Aus Podgorica Thomas Schmid

Im karstigen und zerklüfteten Bergland Montenegros herrschten harte Sitten, und die Montenegriner, deren Stämme während der Jahrhunderte osmanischer Herrschaft nie gänzlich unterworfen wurden, waren schon immer ein stolzes Volk. Fremdes Joch zu ertragen ging ihnen wider die Ehre. Wer die Schule schwänzte, so schreibt Milovan Djilas, brauchte nur einen abgeschlagenen Türkenkopf vorzuweisen, und er war entschuldigt. Der Kampfgefährte und Kritiker Titos berichtet das übrigens nicht mit Ekel, sondern mit kaum verhohlener Bewunderung. Schließlich war er auch Montenegriner.

So soll das also noch vor 150 Jahren gewesen sein. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, es geht gesitteter zu, aber der Stolz ist geblieben, und auch der Freiheitsdrang. Doch als zu Beginn der 90er Jahre das kommunistische Jugoslawien zerfiel, hielt das kleine Montenegro dem großen Serbien, anders als alle anderen Bundesstaaten, die Treue. Schließlich fühlen sich die meisten Montenegriner als Serben, manchmal sogar als die besseren Serben; sie sprechen Serbisch, und ihre Kirche gehört zur serbischen Orthodoxie.

Und deshalb besteht Jugoslawien, das bis vor wenigen Jahren noch Rest- oder Rumpfjugoslawien genannt wurde, um es vom alten, nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Jugoslawien zu unterscheiden, heute aus zwei Republiken, aus Serbien, das etwas über zehn Millionen Einwohner zählt, und aus Montenegro mit knapp über 600.000 Einwohnern – ein recht ungleiches Paar also.

Slobodan Milošević, der Potentat von Belgrad, hat sich die Treue des kleinen Bruders teuer erkauft. In der neuen Verfassung, die sich der Zweistaatenbund gegeben hat, gibt es zwei Kammern. In der Bürgerkammer nimmt Montenegro 30 von 138 Sitzen ein, die Kammer der Republiken gar ist paritätisch besetzt, 20 Sitze für Serbien und 20 für Montenegro, womit der Zwang zum Konsens quasi institutionalisiert wurde. Das war alles kein Problem, solange Milošević seinen botmäßigen Statthalter Momir Bulatović in Podgorica, der Hauptstadt Montenegros, hatte. Im Oktober 1997 aber wurde der abgewählt, der 36jährige Milo Djukanović trat die Präsidentschaft an, und seither läuft die Republik immer mehr aus dem Ruder.

Montenegro hat im Januar die siebeneinhalb Jahre lang geschlossene jugoslawische Grenze zu Kroatien wieder geöffnet, ohne den großen Bruder zu konsultieren. Es hat die Kontrolle über Zoll und Außenhandel übernommen, die verfassungsgemäß ebenfalls Bundesangelegenheiten sind, und seit Montag dürfen Westeuropäer wieder ohne jugoslawisches Visum nach Montenegro einreisen, während Serbien weiterhin auf dem Sichtvermerk besteht. Dragan Djurović sagt nur: „Wir bemühen uns, die Verfassung möglichst wenig zu brechen.“ Er ist Mitglied der Präsidiums von Djukanović' „Demokratischer Partei der Sozialisten“, der stärksten Gruppierung im „Bündnis für ein besseres Leben“, das seit den Wahlen vom vergangenen Mai die Regierung stellt. Serbien habe die Verfassung schon lange gebrochen, entschuldigt er das Vorgehen Montenegros.

In der Tat weigern sich Milošević und der geschlagene Bulatović, den äußerst knappen Wahlsieg Djukanović' anzuerkennen, und die 20 alten montenegrinischen Abgeordneten der Kammer der Republiken weigern sich, die Sessel für die 20 neuen Abgeordneten freizumachen, die von der neuen Parlamentsmehrheit entsandt wurden. Mit den Stimmen der alten Kammer ließ Milošević den geschlagenen Bulatović zum neuen jugoslawischen Ministerpräsidenten wählen.

Seit einem Jahr schwelt eine Verfassungskrise

Die Regierung Montenegros weigert sich deshalb, die Bundesregierung anzuerkennen, und hält folgerichtig auch alle Bundesgesetze für null und nichtig. Die 20 alten Abgeordneten von Bulatović' „Sozialistischer Volkspartei“ begründen ihr starrsinniges Ausharren in der Kammer der Republiken auch damit, daß sie den sie benachteiligenden Wahlmodus nach dem Mehrheitsprinzip nicht anerkennen, den die neue Mehrheit per Gesetz festgelegt hat. Das von Milošević kontrollierte Bundesverfassungsgericht gibt ihnen recht, Montenegro wiederum erkennt das höchste Gerichtsurteil nicht an. Seit einem Jahr schwelt die Verfassungskrise.

Montenegro scheint diese Krise nutzen zu wollen, das Joch Belgrads abzuschütteln. Schon spricht Präsident Djukanović vom „letzten Diktator Europas“, wenn er Milošević meint, und Bulatović wirft dem „Herrn“ Djukanović vor, die Sezession Montenegros zu betreiben. Zwar droht Montenegros Präsident ab und zu, aus dem Bund auszusteigen, doch meistens schiebt er solchen Drohungen gleich die Versicherung hinterher, Montenegro wünsche in Jugoslawien zu verbleiben, allerdings – wie er relativierend hinzuzufügen pflegt – nicht unter allen Umständen. „Wir wollen nicht länger für eine desaströse Politik mithaften“, sagt Djurović, „die allein in Belgrad bestimmt wird.“

Wie Serbien leidet auch Montenegro unter den Sanktionen gegen Jugoslawien, und wenigstens will man nun nicht auch noch in den Krieg im Kosovo hineingezogen werden. Doch genau dies geschieht, weil dort nicht nur die serbische Polizei im Einsatz ist, sondern auch die jugoslawische Armee. Der dem montenegrinischen Präsidenten nahestehende Armeechef Perisić, der sich gegen die Kriegsführung im Kosovo aussprach, wurde von Milošević im vergangenen November kurzerhand ausgewechselt. „Die jugoslawische Armee ist auch in Montenegro stationiert“, warnt Djurović, „und so fallen möglicherweise auch bald in Montenegro Nato- Bomben“ – obwohl doch die kleine Teilrepublik eine Einmischung des Westens im Kosovo begrüßt hat. Milošević werde alles tun, um Montenegro in den Krieg zu ziehen, befürchtet er.

Auch Novak Kilibarda ahnt Schlimmes für Montenegro. Der Vizeministerpräsident führt die nationalliberale „Volkspartei“ an und ist Universitätsprofessor für serbische Literatur. In seinem Büro hängt eine Collage von Njegos, dem Fürstbischof, der als 17jähriger 1830 die weltliche und kirchliche Macht in Montenegro übernahm und dessen Porträt in fast jeder Bauernstube des Landes hängt. Njegos hat in seinem literarischen Hauptwerk „Der Bergkranz“ die Größe Serbiens besungen und den Freiheitskampf der Montenegriner. Er ist die nationale Symbolfigur schlechthin. Sein Mausoleum auf dem 1.750 Meter hohen Gipfel des Lovcen-Gebirges ist ein Wallfahrtsort.

Ist Kilibarda ein „Grüner“, wie man hier die Anhänger eines unabhängigen Montenegros nennt, oder ein „Weißer“, der für die Einheit von Serbien und Montenegro ist? „Mit Serbien immer, unter Serbien nie“, antwortet der Vizepremier: „Es ist wie in einer Ehe: Ist sie zerrüttet, so ist die Scheidung die beste Lösung.“ Für den Fall, daß der Westen militärisch in Jugoslawien eingreifen will, verlangt der Professor eine Gnadenfrist für Montenegro. Dem Land müsse die Möglichkeit gegeben werden, in einem Referendum über die vollständige Unabhängigkeit abzustimmen, damit es sich, wenn das Volk denn will, aus dem Konflikt heraushalten kann.

Kilibarda hat den montenegrinischen Soldaten in der jugoslawischen Armee geraten, sich dem Kriegseinsatz im Kosovo zu verweigern. Das hat ihm von serbischer Seite böse Vorwürfe eingetragen. Doch er ist grundsätzlich für friedliche Lösungen von Konflikten. Heute. Das war nicht immer so.

Bulatović und Djukanović sind heute verfeindet

Als vor etwas mehr als sieben Jahren montenegrinische Freischärler und Soldaten die kroatischen Dörfer an der dalmatischen Küste jenseits der montenegrinischen Grenze zerstörten und das kroatische Dubrovnik mit schwerer Artillerie beschossen, ermunterte er seine Anhänger, für die serbische Sache zu kämpfen, und forderte gar eine „Serbische Republik Dubrovnik“.

Kilibarda ist ein Kenner der großen montenegrinischen und serbischen Vergangenheit, doch über die jüngste Vergangenheit und die Kriegsverbrechen der Montenegriner im äußersten Süden Kroatiens öffentlich zu sprechen, scheint ihm nicht opportun. Bulatović war damals Präsident und Djukanović Premierminister. Die beiden heute verfeindeten Politiker haben Milošević Krieg gegen Kroatien gemeinsam offen unterstützt. Aber all dies ist auch in jenen Kreisen, die heute den Machthaber von Belgrad gerne einen Kriegsverbrecher schimpfen, ein großes Tabu. „Es ist zu früh, über solche Fragen zu sprechen“, meint Kilibarda schlicht.

Einer der wenigen, die damals offen gegen den Krieg gegen Kroatien aufgetreten sind, ist Miodrag Zivković. Heute leitet der frühere Richter die „Liberale Allianz“. Damals organisierte die Partei in Cetinje ein großes Meeting und entschuldigte sich bei den Einwohnern von Dubrovnik öffentlich für die Aggression aus Montenegro. Bei den Wahlen vor zehn Monaten hat die Partei nur knapp über sechs Prozent der Stimmen eingeheimst. In Cetinje aber wurde sie zur stärksten Partei.

Cetinje, ein kleines Städtchen am Fuß des Lovcen-Massivs, war jahrhundertelang Hauptstadt Montenegros. Erst Tito machte Podgorica, das später in Titograd umbenannt wurde und heute wieder Podgorica heißt, zum Regierungssitz. Hier sind nun Verwaltung und Bürokratie zu Hause.

Das Herz Montenegros aber schlägt weiterhin in Cetinje, sagen die Einheimischen, Cetinje ist das kulturelle Zentrum des Landes. Hier hat schon Njegos gewirkt, hier steht die Biljarda, die nach seinem Lieblingsspiel benannte Residenz, gleich unterhalb des Klosters, im gleichen grauen Stein gebaut und mit ihm eine architektonische Einheit bildend.

„Bulatović und Djukanović, einst Freunde, jetzt Feinde, kommen beide aus derselben gewendeten kommunistischen Partei“, sagt Zivković, „sie schleppen die Fehler aus der alten Ordnung mit sich. Sie wollen alles kontrollieren: die Medien, die Polizei und den Schwarzmarkt.“ Seine Partei ist die einzige, die ohne Wenn und Aber für die Unabhängigkeit Montenegros eintritt. Ein souveränes Montenegro könnte unter den heutigen Gegebenheiten nur gewinnen, meint er. Es könnte sich aus dem Krieg heraushalten, es hätte Zugang zu den Töpfen der internationalen Finanzinstitutionen, die Touristen würden zum Teil wenigstens zurückkommen. Alles könnte sich zum Besseren wenden.

Aber noch stehen 25.000 jugoslawische Soldaten in dem kleinen Land mit der großen Tradition, vielleicht gar nicht wegen des benachbarten Kosovo, sondern wegen des aufmüpfigen Montenegro...