20 Oskars für Europa

■ Rücktritt ist in: Kurz nach Lafontaine geben alle 20 Mitglieder der EU-Kommission ihre Posten zurück. Ex-Präsident Santer gibt sich unschuldig. Bundeskanzler Schröder findet alles halb so wild: Jede Krise ist eine Chance

Brüssel/Bonn/Berlin (taz/rtr) – Bundeskanzler Gerhard Schröder sieht im Rücktritt der EU-Kommission eine Chance, die Reformen in der Europäischen Union (EU) voranzutreiben. Der Berliner EU- Gipfel in der nächsten Woche müsse mehr denn je ein Erfolg werden, sagte er gestern in Brüssel. Die EU stehe in der Finanzreform Agenda 2000 vor einem Kompromiß, sagte der Kanzler, der derzeit den Vorsitz im Europäischen Rat führt und in Berlin Gastgeber ist. Auf Personalfragen wollte er nicht eingehen. Sie werden nach seinen Worten in Berlin zwar eine Rolle spielen, aber noch nicht entschieden werden. Wie lange die Kommission geschäftsführend im Amt bleibt, blieb zunächst offen. Sie war zurückgetreten, nachdem eine Expertengruppe ihr vorgeworfen hatte, keine Kontrolle mehr über den Verwaltungsapparat zu haben.

Reformen mahnten auch Großbritannien und Frankreich an. So forderte Premierminister Tony Blair, die Spitze der EU-Kommission künftig mit einem „wirklichen Reformer“ zu besetzen. Frankreichs Präsident Jaques Chirac forderte, „Lehren aus der beispiellosen Krise“ zu ziehen.

EU-Kommissionspräsident Jacques Santer dagegen zeigte sich „schockiert“ und „persönlich beleidigt“. Nur wenige Stunden nach der Rücktrittserklärung der kompletten EU-Kommission spielte er gestern in Brüssel den unschuldigen Biedermann. Den Bericht, der in der Vornacht den Kollektivrücktritt ausgelöst hatte, nannte er, „völlig unausgewogen“. Seine Schlußfolgerungen seien durch die aufgeführten Fehler und Versäumnisse einzelner Kommissionsmitglieder „nicht gedeckt“. Besonders erbost war Santer über die abschließende Feststellung des Berichts, die Kommission sei nicht bereit gewesen, die ihr obliegende Verantwortung zu übernehmen.

Beharrlich verweigerte Santer eine Antwort auf die Frage, ob er und andere bisherige Mitglieder der Kommission zu einer erneuten Kandidatur bereit seien. Dies zu entscheiden sei Sache der fünfzehn Mitgliedsregierungen der Europäischen Union, insbesondere der deutschen Ratspräsidentschaft. „Was antworten Sie, wenn Bundeskanzler Schröder Sie fragt, ob sie nur noch einige Tage oder noch mehrere Monate im Amt verbleiben wollen?“ wollte ein Journalist wissen. Santers Antwort: „Ich muß mich erst mit meiner Frau beraten.“ Die Frage, ob seine „persönliche Glaubwürdigkeit“ beschädigt worden sei, wollte der seit 1994 als Kommissionspräsident amtierende Santer nicht gelten lassen: Da müsse man seinen Vorgänger fragen. Denn die meisten der im Bericht inkriminierten Vorgänge stammten aus dem Jahr 1993. Damals leitete noch der Franzose Jacques Delors die EU- Kommission.

Vehement wehrte sich der Luxemburger Santer gegen die Vermutung, sämtliche Kommissare hätten zurücktreten müssen, weil die im Bericht von allen am schwersten belastete französische Forschungskommissarin Edith Cresson ihre Demission verweigert habe. Einen Anflug von Einsicht in eigene Fehler ließ Santer lediglich bei der Frage erkennen, ob ein Rücktritt bereits vor einigen Monaten nicht besser gewesen wäre: „Hinterher ist man meistens klüger.“

Wettbewerbskommissar Karel van Miert nannte es unfair, den Eindruck zu erwecken, als sei alles falsch gemacht worden. Eine Reihe von Dienststellen seien in dem Bericht nicht erwähnt worden, weil sie gut funktionierten – darunter auch seine eigene. Er sehe deshalb keinen Grund, die Geschäfte nicht bis zum Ende des Mandats Anfang 2000 fortzuführen. Hingegen verlangte der Präsident des Europaparlaments, José Maria Gil-Robles, die Kommission nicht noch weitere neun Monate im Amt zu lassen. azu

Tagesthema Seiten 2 und 3, Kommentar Seite 12