Rivette ist überall

■ Das vermutlich grandiose Festival des französischen Films im Kino 46 beginnt heute abend mit einem verbürgt grandiosen und langen Film des Regisseurs Jacques Rivette

Gerade mal eine halbe Seite war der Tod Stanley Kubricks der taz wert. In der „Liberation“ dagegen enterte der Dahingeschiedene den Titelplatz. Und auch „Le Monde“ warf ihm zwei fette Seiten Ehre hinterher, schwärmt Karl-Heinz Schmid vom Kino 46. Für die FranzösInnen ist Kino eben nicht Kino, sondern Filmkunst. War 1997 für das deutsche Kino mit 35 Prozent-Anteil Eigenproduktionen ein hymnenerzeugendes Ausnahmejahr, so sahnen Heimprodukte in Frankreich mit schöner Regelmäßigkeit 40-50 Prozent der Karten ab. Ein Erfolg, den Schmid eben nicht nur der unumstritten besseren Förderungslage im Nachbarland zuschreibt, sondern: höherer Qualität! „Fällt Dir eigentlich auch nur ein/e ernstzunehmende/r deutscher Schauspieler/in ein? Schrader, Krol – er ist ja ganz nett, Ferres, das sind doch eher Karikaturen. Der französische Film dagegen zeigt komplexe Charaktere.“ Und die tragen eben auch Filme mit einfachen, unspektakulären Handlungen dank raffinierter Dialoge. Schönstes neues Beispiel: „Die Schule des Begehrens“ mit Isabelle Huppert und Vincent Martinez. die Antigeschichte eines mißglückten Liebesversuchs. Die bloßen Zickzacktänze von Augen und Wörter sind aber tausendmal spannender als jedes verdrechselt-intrigante Hollywood-Mordspektakel.

Der Film ist einer von 23 Filmen, die eine Woche lang über die Leinwände von Kino 46 und Co-Veranstalter „Institut Francais“ flackern. 15 der Filme sind für Bremen Erstaufführungen: Eine Tatsache, die dem gemeinen Kinogänger absolut schnuppe ist, auf die Schmid aber mächtig stolz ist. Diese Frischimporte hat er zum Teil beim Festival für den französischen Film in Tübingen entdeckt, zum Teil steckte sie ihm sein Freund Charles Gaubert. Bei diesem Rentner, Exlehrer und Hobby-Kleinkinobetreiber im 5.000-Seelen-Kaff Charlieu, einem Hüpfer südlich von Lyon, war Schmid kürzlich zu Gast, um Schulkids deutsche Filme aus besseren Tagen – von Metropolis bis Fassbinder – vorzustellen.

Das „Angebot der Woche“ ist bunter als bei Penny und Comet. Bezeichnenderweise ist aber nur eine Kömodie dabei. Und in der spritzt fröhlich Blut und Sperma durcheinander. „Sitcom“ heißt diese Soapoperapersiflage. Zu sehen sind aber auch viele Filme, die Alltagsproblemen wie Kleptomanie (Jacquots „Der siebte Himmel“), Arbeitslosigkeit (Massons „Haben oder nicht“) und sogar mörderischem Rechtsradikalismus (Dumots „Das Leben Jesu“) einen poetischen Überschuß abtrotzen. Schließlich kennt niemand das Erhabene im Kaputten so gut wie das französische Kino, Verzeihung, die Filmkunst.

Im Gegensatz zum deutschen Film ist der französische schon lange multikulti. Zwar steht die Problematik von Algeriern, Tunesiern usw. kaum mehr wie in der Hochphase des „Cinema beur“ im Handlungszentrum, taucht dafür mit umso größerer, schönerer Selbstverständlichkeit an den Rändern auf. Neben Erinnerungen an die Altdadaisten Man Ray, Du-champ, Picabia und an Chris Marker, dem unumstritten besten Filmessayisten der Welt, gibt es auch eine Werkschau von Claire Denis, einer in Kamerun aufgewachsenen Regisseurin, die bei Wenders und Rivette ihr sensibel-schrilles Handwerk lernte.

Ja, Rivette. Dessen asketische Geduldsprobe „Geheimsache“ bildet den überaus rühmlichen Auftakt des Festivals. Die Logik der Geschichte ist von biblischem Ausmaß. Eine einzige Untat, vor 15 Jahren von einem Vater an seiner Tochter begangen, verstrickt nicht nur die Familienangehörigen, sondern auch gänzlich Unbeteiligte in ein Netz von Verdacht, Mißtrauen, Schuld. Der Geist der Rache erweist sich als ein miserabler Schütze: Statt das Böse auszulöschen, sichert er dessen Überleben. Eigentlich eine große, antike Tragödie. Und dennoch sehen wir die meiste Zeit Menschen beim Marmeladenbrotschmieren, Zeitunglesen, beim Laborfläschchenschütteln und vor allem beim Aus-dem-Fenster-Starren, beim Gehen und Zugfahren. Ganz als ob Rivette vergessen hat, daß man im Film von einem Ort zum anderen durch ein einfaches Mittel kommt: den Schnitt. Rivette ist ein manischer Sammler des Uneigentlichen, der nebensächlichen Handgriffe, der Zwischenwege, Übergänge.

„Bei meiner Arbeit hier im Kino“, klagt Schmid, „verflüchtigt sich mindestens die Hälfte der Zeit in schwer greifbaren Nebensächlichkeiten, Telefondurchstellen, Filmkopien anmahnen...“ Rivette ist eben überall.

Etwa zehn Minuten begleiten wir die mordwillige Sandrine Bonnaire stumm auf dem Weg zu ihrem Opfer. Wir hören ihren zwanghaft zackigen Gang, wir sehen ihre fahrigen Hände an einem Wodka-fläschchen nesteln, sehen das Spiel der Runzeln auf der bloßgelegten massig-kantigen Stirn – und wissen, daß wir kaum wissen, was dahinter steckt. Wie einst der Nouveau Roman eines Robbe-Grillet, Ponge, Simon wird mit objektivistischem Furor jedes Fitzelchen Wirklichkeit verzeichnet ohne vorschnelle Psychologisierungsgelüste.

Auch die Protagonisten selbst sind nicht gerade auskunftsfreudig. Ein paar minimalistische Fragmente aus dem eigenen Seelenchaos werden rausgerotzt, dann wird gehandelt und natürlich falsch. Statt mit Musik die Sache psychologisch klar einzufärben liefert auch der Soundtrack abirrende Paralleltöne: Autolärm von der Straße, der Streit der Nachbarn, Vögelgezwitscher.

Die Quintessenz von Rivettes Filmsprache wird eigentlich schon im Vorspann deutlich. Anstatt durch originelles Design den Zuschauer in den Film hineinzulocken, staksen mit unüberbietbarer Nüchternheit weiße Buchstaben auf schwarzem Grund: nur kein Schnörkel, nur keine Lüge. bk

Fast alle Filme des französischen Filmfestivals werden im Original mit Untertiteln gezeigt. Anfangszeiten siehe Kinoprogramm