Milošević hatte Grund, den Vorfall zu verheimlichen

■ Von Anfang an gab es Hinweise, die für ein Massaker sprachen. Durch Verzögerung und Vertuschung hat das Belgrader Regime erreicht, daß eine vollständige Aufklärung unmöglich ist

Mindestens 45 Menschen mußten in Racak sterben, weil fünf Tage zuvor in der Gegend ein serbischer Polizist erschossen worden war. Diese unumstrittene Tatsache ist in der Auseinandersetzung um die Toten der Ortschaft südlich von Priština längst vergessen worden. Auch die serbische Seite hat schließlich immer zugegeben, daß die „Auseinandersetzungen“ in Racak Folge dieses Mordes seien. Man habe eine „terroristische Bande“ ausschalten müssen.

Trotzdem ist es wichtig, den konkreten Ablauf dessen, was der Bericht der finnischen Experten den „Vorfall von Racak“ nennt, genauer zu erhellen. Immerhin hat das Massaker die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt, und erst nach den Bildern von den 22 Toten im Graben oberhalb des Dorfes verstärkte die internationale Gemeinschaft den Druck für eine politische Lösung. Wahrscheinlich wäre es ohne die Toten von Racak zu den Verhandlungen in Rambouillet und nun in Paris erst viel später gekommen. Wahrscheinlich hätte auch die Nato viel später gedroht, serbische Ziele zu bombardieren.

Man stelle sich vor, die serbische Version, wonach es sich bei den Toten um Guerilleros handelt, die von den Albanern umgekleidet und für die Weltöffentlichkeit präpariert wurden, wäre durch den Bericht des finnischen Teams bestätigt worden. Man hätte die Tatsache, daß im Kosovo die Polizei und die Armee einen Krieg nicht nur gegen die UÇK, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung führen, schlicht vergessen.

Zweifel an einem Massaker kamen auf, obwohl der Augenschein und die Zeugenaussagen dagegen sprachen. Das ist an sich kein Skandal. Denn der Augenschein kann trügen. Ich muß zugeben, als ich die über 40 Leichen in der kleinen Moschee sah, habe ich auch nicht genau hingeschaut, ob nun die Einschußlöcher und die Löcher in den Kleidern übereinstimmen. Ich habe nur wahrgenommen, daß alle zivil gekleidet waren. Und daß die Aussagen von Augenzeugen nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen, wird oft übersehen. Flüchtlinge und Überlebende stellen mitunter Sachverhalte falsch dar. Das wird jeder seriöse Reporter immer wieder feststellen.

Aber es gibt einige Tatsachen, die von Anfang an für ein Massaker sprachen. Bis 16.30 Uhr wurde am Freitag geschossen, am Samstag um 8.30 Uhr fanden Journalisten die Leichen im Graben. Zwischen diesen beiden Zeitpunkten war es im Januar höchstens anderthalb Stunden hell. Wie soll man aber in anderthalb Stunden 45 Tote finden, ihnen bei einer Kälte um den Gefrierpunkt 90 Schuhe ausziehen, um 45 andere Hosen anzuziehen und ihnen dann wieder 90 Schuhe anziehen? Das erfordert nicht nur einen respektlosen Umgang mit Toten, wie er Geheimdienstlern zuzutrauen ist, aber kaum Männern, die in einer ländlichen Tradition aufgewachsen sind – es erfordert auch eine beachtliche Logistik.

Zudem: Warum hat Slobodan Milošević die Hauptanklägerin des Internationalen Tribunals zur Untersuchung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, Louise Arnour, die schon am Montag nach dem Geschehen an der Grenze zum Kosovo stand, die Einreise verweigert, wo doch ein Beweis für albanische Manipulationen für sein Regime ein gefundenes Fressen gewesen wären? Warum hat das serbische Regime nicht dafür gesorgt, daß die Leichen sofort unter internationale Bewachung gestellt wurden? Militärisch hatte sie die UÇK ja aus dem Gebiet vertrieben, und es bereitete der Polizei dann ja auch keine Schwierigkeiten, die Leichen in der Moschee nach dem Massaker zu beschlagnahmen – drei Tage nach dem Massaker. Weshalb wurden erst jugoslawischen forensischen Experten erlaubt, Autopsien vorzunehmen, und erst danach, eine Woche nach dem Massaker, auch unabhängigen Experten? All dies wies schon im Januar darauf hin, daß es etwas zu verheimlichen galt. Viele Fragen, die das Massaker von Racak betreffen, werden vermutlich für immer offen bleiben – das zumindest hat das Belgrader Regime mit seiner Strategie der Verzögerung und Vertuschung erreicht.