Dichtung, Wahrheit etc.
: Goethes Knochen

■ Wie die DDR Klassikerpflege wörtlich nahm

Dunkel war's, der Mond schien helle. Die Verschwörer kamen wie im Märchen ordnungsgemäß zu siebt und zogen eine Handkarre hinter sich her. Sie planten das ultimative Verbrechen: Goethes Leiche aus der Weimarer Fürstengruft zu entnehmen, um die Dichter-Gebeine zu vermessen und zu konservieren. So geschah es am 2. November 1970 in Weimar – nicht ohne die Aktion in einer „Sonderakte Mazeration Goethe“ nach DDR-Art penibelst zu protokollieren.

Welche Roheit! Welche Brutalität, klagt die FAZ, der es zu verdanken ist, die Vorgänge vom November 1970 aufgespürt und auf zwei Feuilletonseiten wie einen Kriminalroman ausgebreitet zu haben: Immerhin handle es sich bei der in der anatomischen Sammlung des Goethe-Nationalmuseums gefundenen 14seitigen Akte um den „sonderbarsten Text dieses Goethejahres“. An Sonderbarkeit wird er vielleicht nur noch vom FAZ-Aufmacher des Tages übertroffen. An der Stelle, an der sonst Regierungskrisen vermeldet werden, teilt die FAZ die Untersuchungsergebnisse mit: daß sich in Goethes Schädelinnerem „nur eine staubartige Masse“ gefunden habe; daß seine Körpergröße nach der Pearsonschen Körperformel beim Tod 169 cm betragen habe und das Schädelvolumen 1.550 ml.

Wo das Sein das Bewußtsein bestimmt, das lernen wir daraus, muß Klassikerpflege Knochenpflege sein und Goethe-Forschung Anatomie. Die Materialisten hatten eben ein gestörtes Verhältnis zu Pietät und Leichenwürde. Sie vermaßen und fotografierten Goethes Reste so ungerührt, als handle es sich um einen „Tierkadaver“ oder einen „Mammutzahn“ (FAZ). Am besten übernehmen wir die mit Hammer und Meißel bewehrten Dunkelmänner also zur Strafe ins kollektive Bewußtsein: als archetypische Vertreter ihres nebelschwadenverhangenen Staates.

Der Zustand der Leiche erfüllte die sieben jedoch mit Sorge. Goethe ist nicht Lenin: Idealisten verrotten schneller. Doch weil die DDR ein „Erbe“ zu verteidigen hatte, wurden die „sterblichen Überreste“ weggebrannt, die blanken Knochen mit Feinwaschmittel gereinigt und anschließend auf Polyamidschaum in den Sarg zurückgebettet: jetzt endlich, nach 130 Jahren Zersetzung, haltbar für die Ewigkeit. Selbst der welke Lorbeerkranz wurde mit Kunststoff gestärkt, so daß wir uns Goethe nun mit Plaste und Elaste aus Schkopau auf dem Totenschädel vorstellen müssen. Das aber geht, bei aller Liebe zu Dialektik und Ironie der Geschichte, entschieden zu weit. Sollte man nicht bald zu einer zeitgemäßeren Version der Ewigkeit finden und Goethe auf den neuesten historischen Stand bringen? Jörg Magenau