Kritik aus den eigenen Reihen

Beim Atomausstieg habe inzwischen die Energiewirtschaft und nicht die Bundesregierung das Sagen, urteilt Niedersachsens SPD-Umweltminister Jüttner  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Harsche Kritik an der Atompolitik der rot-grünen Bundesregierung setzte es gestern aus Niedersachsen. Landesumweltminister Wolfgang Jüttner (SPD) warf der Bundesregierung vor, sie habe sich beim Atomausstieg „von der Energiewirtschaft das Ruder aus der Hand nehmen lassen“. Grobe Ungeschicklichkeit und handwerkliche Fehler hätten dazu geführt, daß bei den Konsenbemühungen inzwischen die Energiebranche Termine und Themen bestimme, vermißte Jüttner den „Primat der Politik“.

Die Branche sei in kurzer Zeit wieder aus der Schmuddelecke herausgekommen, in die sie im vergangenem Sommer durch den Skandal um kontaminierte Atommüllbehälter geraten sei, klagte der SPD-Politiker. Die Atomgesetznovelle, die Bundesumweltminister Jürgen Trittin auf Befehl von Kanzler Schröder mehrfach zurückgestellt hat, müsse rasch verabschiedet werden, verlangte Jüttner. Der in der Bonner Koalitionsvereinbarung vorgesehene Dreierschritt zum Ausstieg – erste Atomgesetzänderung, anschließende Konsensgespräche und dann zweite Gesetzänderung – sei immer noch der angemessene Umgang mit der Energiewirtschaft.

Unzufrieden über die Bonner Ausstiegsbemühungen äußerte sich gestern auch die niedersächsische Grünen-Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms. „Öffentlich das rot-grüne Reformprojekt für gescheitert zu erklären, nützt nichts“, sagte Harms allerdings mit Blick auf die jüngsten Trittin-Äußerungen. Viel wichtiger sei der konkrete Stand der großen rot- grünen Reformprojekte, wie etwa des Atomausstiegs. Daß die erste Atomgesetztnovelle nunmehr auf unbestimmte Zeit verschoben sei, müsse man als ein Scheitern ansehen. „Noch gravierender aber ist, daß die Diskussion um die Restlaufzeiten der Atomkraftwerke nicht offensiv geführt wird“, sagte Harms.

Die Grünen-Politikerin bemängelte auch die Neubesetzung von Reaktorsicherheitskommission (RSK) und Strahlenschutzkommission durch den Bundesumweltminister. Das Interesse der Entsorgungsstandorte in Niedersachsen sei bei der Neubesetzung nicht berücksichtigt worden. So trete etwa der von Trittin jetzt als Atomkritiker in die RSK berufene Diplomingenieur Michael Sailer vom Darmstädter Öko-Institut dafür ein, die Pilotkonditionierungsanlage Gorleben in Betrieb zu nehmen. Harms befürchtete gestern auch eine baldige Wiederaufnahme der Atommülltransporte.

Auch Umweltminister Jüttner bedauerte gestern, daß „Gutachter der Bundesregierung, wie etwa Michael Sailer, auch beim einem Ausstieg aus der Atomenergie eine Pilotkonditionierungsanlage (PKA) in Gorleben für notwendig halten“. Jüttner kündigte an, daß er die 800 Millonen Mark teure Anlage, in der Atommüll endlagerfähig verpackt werden soll, noch in diesem Sommer genehmigen wird, falls in den Konsensgesprächen keine Aussetzung des Genehmigungsverfahren vereinbart wird. Bereits vor drei Monaten habe er Bundeskanzler Schröder in einem Schreiben darauf hingewiesen, daß die PKA-Genehmigung mitten in die Konsensgespräche platzen könne und daß dies dann keine vertrauensbildende Maßnahme sei. Eine Anwort auf den Brief habe er jedoch bis heute nicht erhalten, sagte Jüttner.