Generation Grün – ratlos, müde

Die Grünen haben knapp zwanzig Jahre nach ihrer Parteigründung endlich den Sprung auf die Regierungsbänke geschafft – und haben darob jedes Selbstvertrauen verloren. Die Jugend läuft ihnen davon; ökologische Themen sind out; das Erscheinungsbild der Partei wirkt ältlich und verbiestert. Fehlt es den Grünen an neuen Themen, an einer besseren Programmatik oder vielleicht am günstigeren Image? Nichts von alledem – denn es ist alles noch viel schlimmer. Bis heute haben es die Grünen nicht geschafft, sic von ihrer jugendlichen Attitüde zu verabschieden und für politische Mehrheiten jenseits ihrer Milieus zu werben. Eine Bestandsaufnahme eines siechen Generationsprojekts  ■ von Bettina Gaus

Es ist 1999. Im Religionsunterricht eines Bonner Gymnasiums wird über Achtung und Toleranz im Umgang mit alten Menschen gesprochen. Das Schulbuch mahnt Jugendliche zur Gelassenheit, wenn die ältere Generation nicht zwischen Liedern der „Beatles“ und der „Rolling Stones“ zu unterscheiden vermag. „Das können alte Leute doch viel besser als ich“, entfährt es der elfjährigen Tochter verblüfft. Das ist kein netter Hinweis. Er könnte den Gedanken nahelegen, Jugend wäre nicht das ganze Leben.

Diese Vorstellung vermögen offenbar vor allem jene kaum zu ertragen, deren Jugend von den außerparlamentarischen Bewegungen gegen Wettrüsten, Atomenergie und Frauendiskriminierung und vom Entstehungsprozeß der Grünen geprägt war. Viele von ihnen scheinen den biologischen Alterungsprozeß im jeweils individuellen Fall für einen Irrtum der Natur zu halten. Alle Türen, beruflich wie privat, sollen offen bleiben. Keine Entscheidung, schon gar nicht die Planung des eigenen Lebens, darf irreversibel sein. Opposition auch noch an der Regierung, Widerstand gegen die Älteren bis zur Bahre.

Es ist eine bittere Ironie, daß ausgerechnet den grünen Berufsjugendlichen jetzt die Jungwähler davonlaufen. Eine Ironie – aber kein Widerspruch. Unfreiwillig komisch wirkt in diesem Zusammenhang die hektische Suche nach ganz jungen Nachwuchskräften für Spitzenämter. Der Irrglaube, Jugend als solche bereits für ein Qualifikationsmerkmal zu halten, offenbart die Tragik einer ganzen Generation, die niemals einen positiven Entwurf der mittleren und späten Lebensjahre entwickelt hat. „Trau keinem über 30!“ – der Schlachtruf der Studentenbewegung war mit Blick auf die Nazigeneration politisch gemeint. Bleibende Wirkung aber zeigt er im psychologischen Bereich.

Entgegen einem weitverbreiteten Mißverständnis ist hier nicht nur von den Altachtundsechzigern die Rede, sondern vor allem den ewig Zuspätgekommenen. Selbst Joschka Fischer, einer der ältesten prominenten Grünen, war zur Zeit der Studentenrevolte dem Knabenalter gerade erst entwachsen. Die meisten, die heute zur Führungsspitze seiner Partei gehören, konnten Rudi Dutschke allenfalls in der „Tagesschau“ sehen, und auch das nur, wenn die Eltern sie nicht schon vorher ins Bett geschickt hatten.

Den Marsch durch die Institutionen haben die Jüngeren angetreten, aber nicht ausgerufen. Sie wurden um ihren eigenen Aufstand gegen die Älteren betrogen, weil er nur eine halbe Generation früher mit so viel Elan schon durchgefochten worden war. Als sie an die Universitäten kamen, war der ganze Spaß vorbei.

Einige wenige schafften sich ein paar Jahre später regionalen Ersatz für die verpaßte Revolution: die Hausbesetzer in Berlin und die Kämpfer gegen die Startbahn-West des Frankfurter Flughafens. Die große Mehrheit wartete vergeblich auf die große Auseinandersetzung. Manche warten noch heute. Wie kläglich versickerte das Pathos des Straßenkampfs im Streit der K-Gruppen, aus denen sich auch ein Teil der Grünen speiste! Wer von all denen, die einen Anti-AKW-Aufkleber ans Auto pappten, interessierte sich tatsächlich für Energiefragen? Die Forderungen der Bewegungen waren nicht nur politische Anliegen. Sie waren ebensosehr Transmissionsriemen für Zeitgeist und identitätsstiftendes Gemeinschaftsgefühl.

Weit nachhaltiger als dem politischen haben die Grünen und die sie tragenden Gruppen dem gesellschaftlichen Raum ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute stehen sie für einen fest umrissenen Lebensstil. Er wurde prägend für fast das gesamte arrivierte Bildungsbürgertum, also auch für Teile der Bevölkerung, die diese Partei niemals wählen würden. Jeans im Büro ersetzen Anzug und Kostüm, Wohngemeinschaften die möblierte Dame oder den möblierten Herrn, Betroffenheit die Bravour. Väter sind auch im Kreißsaal dabei, Frauen überall. Umarmung statt Händedruck, du statt Sie, Billy-Regal statt Schrankwand. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es hat immer Abweichler gegeben, die wie Otto Schily in seinen grünen Tagen an bestimmten tradierten Umgangsformen um so trotziger festgehalten haben, je radikaler sie politisch der Minderheit zuneigten. Sie haben damals die Uniformität der anderen Nonkonformisten nur noch schärfer hervortreten lassen.

Die Normen haben sich in den meisten westlichen Industrieländern auf ähnliche Weise gewandelt wie bei uns; globale Faktoren wie die Erfindung der Pille spielten hierbei eine erheblich größere Rolle als nationale Besonderheiten. Aber nicht überall mündete der Wunsch nach Veränderung im Sammelbecken einer Partei.

Ob die Grünen ein Generationsprojekt sind, wird sich jetzt entscheiden, da eine neue Generation herangewachsen ist. Die Zeichen dafür mehren sich, seit sie von Monopolisten des Zeitgeists zu Vertretern geworden sind, die abgestandene Ware losschlagen wollen. Ökologische Probleme sind weder überholt noch politische Randthemen. Aber sie stehen heute nur noch für sich selbst und haben ihren darüber hinausweisenden Symbolcharakter eingebüßt.

Manche aus der Partei, die es bis nach oben geschafft haben, pflegen nun einen Erscheinungsstil und Umgangsformen, die früher dem Habitus der Konservativen entsprachen. Erwachsene Seriosität soll damit demonstriert werden. Zu spät. Im Verlust der Eindeutigkeit von Signalen an die Umwelt liegt die wahre Radikalität der Veränderung. CSU-Politiker in Freizeitkleidung erledigen im Supermarkt die Familieneinkäufe. Ein sozialdemokratischer Kanzler posiert im teuren Kaschmirmantel für den Fotografen. Unterdessen gehen jüngere Abgeordnete von Union und Grünen, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, gemeinsam Pizza essen. Alles geht für alle, und deshalb besagt es auch nichts mehr.

Seit sie erkannt haben, daß der Wunsch nach einem gemeinsamen neuen Lebensstil keine Stimmen mehr bindet, sind die Grünen auf die Suche nach neuen Themen gegangen. Diese Suche wirkt hilflos. Themen gibt es, oder es gibt sie nicht. Sie werden nicht von Gremien erfunden. Wenn die Grünen jetzt die Jugendarbeitslosigkeit als Problem entdecken, dann sind sie ein bißchen spät dran. Anderen ist das vor ihnen aufgefallen, und auch denen werden keine tragfähigen Konzepte zugetraut. Immerhin aber können diese auf eine weniger kurzatmige, breiter gefächerte Geschichte und Identität zurückblicken. Das mag sie im Kampf ums Überleben widerstandsfähiger machen als die Grünen.

Denen droht ausgerechnet die Erkenntnis verloren zu gehen, die sie einst hat wachsen lassen: Politik kann nicht nur verwaltet werden, sondern braucht Vision und Moral. Ja, Moral. Die Einsicht in Machtverhältnisse, Grenzen des Möglichen und ökonomische Zwänge sind Voraussetzungen für die Gestaltung von Politik, aber noch keine hinreichende Begründung für den Wunsch danach.

Die eilfertige Unterwerfung unter einen neuen Zeitgeist hat der deutschen Sprache auch einen neuen Begriff beschert. Die verächtliche Bezeichnung „Gutmensch“ dokumentiert den Abschied von Prinzipien. „Gewaltverzicht war niemals ein Selbstzweck“, behauptet Joschka Fischer im Spiegel-Gespräch. Doch, durchaus. Das war er. Ebenso wie die Gleichberechtigung von Völkern und Geschlechtern, der Schutz von Minderheiten. Es gibt übrigens schlechtere Ziele.

Ihr Opportunismus wird den Grünen nichts nützen. Der Wunsch einer jüngeren Generation nach Abgrenzung von den Älteren läßt sich nicht durch Anpassung unterlaufen. Woran man sich nicht einmal reiben kann, das interessiert auch nicht. Aber es bleibt ja genug, um sich zu reiben. Allen Bekenntnissen zum Trotz gehört der erhobene Zeigefinger gerade bei den Grünen zur politischen Grundausstattung. Im Tonfall erinnert manche Forderung nach ökologischen Reformen an frühere Mahnungen, ein anständiger Mensch zu werden. Ehrenwert das eine wie das andere Anliegen. Aber auch nervtötend.

Mit der Reform ihrer Strukturen wird die Partei sich zu befassen haben. Aber das ist eine interne Angelegenheit und eigentlich für die Öffentlichkeit von minderem Interesse. Die Tatsache, daß die Grünen es überhaupt nur noch dann zu Schlagzeilen bringen, wenn sie untereinander streiten oder gegenüber dem Koalitionspartner in Demutshaltung erstarren, zeugt nicht nur, nicht einmal vorwiegend, von inhaltlichen Defiziten. Es zeigt vor allem, daß die Partei ihr Selbstvertrauen verloren hat. Warum sollten andere es ihnen schenken?

Nachsatz: Es ist kein Versehen, daß in diesem Aufsatz nicht von Bündnis 90/Die Grünen die Rede ist. Der östliche und der westliche Teil dieser auch aus wahltaktischen Gründen zu einer gemeinsamen Organisation verschmolzenen Partei haben keine gemeinsamen Wurzeln. Die Grünen waren Kinder des Westens, und sie sind es bis heute geblieben. Ihre später zur Familie gestoßenen Geschwister wurden, wie sich inzwischen zeigt, nicht einmal adoptiert. Sie sind bestenfalls Stiefkinder.

Bettina Gaus, 42, seit knapp drei Jahren Leiterin des taz-Parlamentsbüros Bonn, gehört zu jener Generation, die sie beschreibt