Müggelburg – vom Leben in den Hafenrevieren

Schon seit Monaten wird in Bremen viel diskutiert und gestritten: Die strukturellen Veränderungen in der Hafenwirtschaft haben dazu geführt, daß der Überseehafen als Hafen nicht mehr benötigt wurde; das riesige Areal der alten Hafenreviere liegt zum Teil brach, und auf einer nur noch zum Teil gewerblich genutzten Fläche, die genauso groß ist wie die Innenstadt oder das Wohngebiet des Bremer Westens, könnte ein neuer Stadtteil entstehen. Der Senat hat mit dem Zuschütten des Überseehafens und dem Bescluß, den Großmarkt in dieses Gebiet zu verlagern, Entscheidungen getroffen, die mit Stadtentwicklung einer Stadt am Fluß wenig zu tun haben. Wohnen – ja oder nein, Gewerbe – ja oder nein, das scheint die Hauptkontroverse zu sein, die eigentlich keine ist. Viele in Bremen, und wohl auch unter den Politikern, wissen offensichtlich nicht, daß das Gebiet um die alten Häfen bis zur Zerstörung im August 1944 gar kein reines Gewerbegebiet war, sondern daß hier im 'alten Westen' und auf der 'Muggenburg' bisvor wenigen Jahrzehnten „Wohnen und Gewerbe“ kein Gegensatz waren, sondern sich geradezu ergänzten und zusammengehörten. Und hier wurde nicht nur proletarisch gelebt sondern auch gut bürgerlich.  ■ Von Cecilie Eckler- von Gleich

Im Jahre 1888, also vor gut 100 Jahren, ist der Bremer Freihafen eröffnet worden, Bremen schloß sich dem deutschen Zollgebiet an. Hiermit wurde in den darauf folgenden Jahren eine sprunghafte industrielle Entwicklung eingeleitet. Da direkt im Freihafen keine Industriebetriebe zugelassen waren, wurde, wenig später auf dem Gelände der sogenannten „Waller Gemeinheit“ der Holz- und Fabrikenhafen gebaut. 16 Waller Großbauern verkauften ihre Ländereien an die Stadt. Hier siedelten nun etliche Betriebe an wie die Großmühlen „Roland“ und „Hansa“, die Ölfabrik Großgerau und die Besigheimer Ölfabriken und Kaffee Hag. 1902 wurde mit dem Bau des Überseehafens begonnen. Schon 1888 mit der Eröffnung des Freihafens wurde als größtes Industrieunternehmen die Bremer Jute Spinnerei und Weberei gegründet.

Mit diesem Industrialisierungsschub stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften enorm an, und geradezu explosionsartig entstanden in ca. zwei Jahrzehnten um die Jahrhundertwende neue Straßenzüge und Wohnungen. Die „Jute“ baute eigene Werkswohnungen in der Fabrikenstraße und am Syndikushof und eröffnete 1907 das Kinder- und Säuglingsheim an der Nordstraße. Vom Gemeinnützigen Bremer Bauverein wurde 1888 mit dem Bau des Wiedviertels, direkt neben dem Jute-Gelände, begonnen, und so wuchsen das ehemalige Dorf Walle, Utbremen, die Doventorsvorstadt und die Stephanistorsvorstadt zu einem großen Gebiet zusammen, zum Bremer Westen.

Das Gebiet jenseits der Nordstraße, gegenüber dem Volkshaus, dort wo heute das Lagerhaus von Eduscho steht, dieses Gebiet, das sich zwischen Europahafen, Wallanlagen, Nordstraße und ungefähr bis Höhe Grenzstraße entlang zog, wird von älteren Bremern der 'alte Westen' genannt. Die Nähe zum Hafen aber auch zur Weser und zur Altstadt haben dieses Gebiet geprägt. Natürlich gab es hier auch Straßen mit kleinen Arbeiterhäusern, Wirtshäuser und Gaststuben, die den vorbeifahrenden Fuhrmann oder am Hafen Beschäftigte zur Pause einluden, aber es fallen auch die schmucken Fassaden und größeren Häuser ins Auge, die zumindest das Urteil nahe legen, daß hier auch wohlhabendere Schichten zu Hause waren. So wird die Bülowstraße und der Bülowplatz auch das „Schwachhausen des Bremer Westens“ genannt, und ein Blick ins Adreßbuch zeigt, daß allein in der Nordstraße zwischen Lützower- und Palmenstraße z.B. 15 Ärzte wohnten und ihre Praxisräume hatten. Man wohnte hier sehr stadtnah, war man durchs Stephanitor doch gleich in der Faulenstraße, bei Bamberger und am Brill. Und die verkehrliche Anbindung durch 2 Straßenbahnlinien war optimal. Mit der Eröffnung des Freihafens fuhr schon die „Pferdebahn“ durchs Stephanitor, über die Tannenstraße bis in den Hafen. Später fuhr die rote Linie, die beliebte Ringbahn, am Freihafen vorbei in die Stadt, und durchs Doventor fuhren die Linien 2 und 3 in den Bremer Westen. Durch den Tunnel am Korffsdeich, den Zollpfad entlang, gings zum Anleger der Fähre und schon war man drüben in Pusdorf (Woltmershausen). Die Fähre verband beide Stadtteile und Weserseiten miteinander. So fuhren viele Arbeiter jeden Tag mit der Fähre oder mit dem eigenen Boot rüber zu den Atlas-Werken auf der Muggenburg. Natürlich gab es im Westen viele große und kleine Lokale, Wirtschaften und Kneipen, für jeden war etwas dabei, vom Stammtisch bis zur Bierhalle und Nacht-Bar. Aber ein richtiges Vergnügungsviertel, vergleichbar mit dem in Hamburg, gab es trotz Hafen in dieser Zeit nicht. Die alte Hafenstraße als Zufahrtsstraße aus der Altstadt ins Hafengebiet bildete das eigentliche Zentrum in dieser Hinsicht. Schaut man sich die Straßenzüge genauer an (Baumstraße, Stephanitorssteinweg, Hafenstraße, Korffsdeich u.a.) so sind die vielen kleinen und größeren Gewerbebetriebe unübersehbar, die zum großen Teil mit dem Hafen direkt oder indirekt zu tun hatten: Fuhrunternehmen, Holzhandlungen, Baugewerbe, Schmiede und jede Menge Werkstätten, die natürlich direkt hinterm oder beim Wohnhaus untergebracht waren

Die Muggenburg

Der Name hat wohl etwas mit der Mücke zu tun, „Mückenburg“, und hier mag die Nähe zum Wasser vielleicht die Namensgeberin gewesen sein. Vor dem Stephanitor lag hier eine dörfliche Siedlung, und schon auf den Plänen Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Straßen / Wege Beim Bindwams, Kleine Bleicherstr./Fichtenstraße, Sandersdeich, Bei der Reeperbahn; Muggenburgerstraße, Auf der Muggenburg, Sandberg, Stephanikirchenweide, Stephanitorsbollwerk, Fischersdeich und Kehrmannsdeich eingetragen. Zwischen den frühen Gewerbeansiedlungen am Wasser und der Stephanikirchenweide hat sich hier ein ganz eigenes Viertel entwickelt. Da die Schweinsweide der Stephanigemeinde gehörte, und erst für den Hafenbau an die Stadt verkauft wurde, gingen die Bauphasen Mitte des 19. Jahrhunderts an diesem Gebiet vorbei. Neben dem ländlichen Charakter hatte die Muggenburg schon in frühen Zeiten sich einen Namen mit dem Brennen von Kalk gemacht. Hier wurden die ersten Kalkbrennereien vor den Toren der Stadt errichtet, um den begehrten Muschelkalk für den Bau öffentlicher Bauten zu liefern. Dies geschah zum Leidwesen der Anwohner, die in ihren strohgedeckten Häusern Angst vor einer Feuersbrunst hatten, wenn der Kalk am offenen Herd gebrannt wurde. Im 19. Jahrhundert ging man zu festgemauerten Öfen über. Die bekannteste Brennerei war die von Otten, die fast 100 Jahre in Familienbesitz war und weit über Bremen hinaus einen besonderen Ruf hatte. Es war auch der letzte Kalkofen Bremens, der nach dem II. Weltkrieg abgetragen wurde. Mit dem Bau des Freihafens wurde aus der Muggenburg eine Halbinsel und mit dem Zollzaun wurde diese Entwicklung noch verstärkt, weil man nun nur noch vom Zollpfad durch den Tunnel und über die Stephanitors-Con- trescarpe mit dem übrigen Teil der westlichen Vorstadt verbunden war. Die Nähe zum Wasser, zu den großen Gewerbeansiedlungen und den Packhäusern, die Nähe zum Freihafen haben dieses Viertel geprägt, und es gibt wohl kaum einen vergleichbaren Ort, wo wie auf einer Insel Wohnen und Gewerbe in dieser besonderen Struktur miteinander verbunden waren. Hier wohnten kleine und größere Gewerbetreibende, Einzelhändler, Schiffsleute und Kapitäne, Arbeiter und Handwerker. Es gab die Schellackfabrik Ströver, eine Seifenfabrik, etliche Packhäuser, Fuhrunternehmen, Kohlenhandel und sogar Milchviehhaltung. Wer auf der Muggenburg lebte, brauchte nicht das Viertel zu verlassen, um sich mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Und es gab mehr als 20 Gaststätten (!) in diesem relativ kleinen Bezirk. Die Freizeit wurde an der Weser verbracht, an der Tränke war beliebter Treffpunkt für Jung und Alt und im Sommer hatte man auf der Spitze der Muggenburg, an der Schweinsweide seinen eigenen kleinen Badestrand. So ist es nicht verwunderlich, daß die Muggenburger sich untereinander gut kannten, und sich hier ein ganz besonderes Sozialwesen entwickelte. Die vielen Leute, die auf den Atlas-Werken oder bei der Reismühle Nielsen arbeiteten oder bei der Petroleum-Raffinerie Korff, die vielen Leute aus dem Bremer Westen, die im Sommer zum Baden nach Timmermann und Lankenau fuhren, gingen nicht unbedingt durch das eigentliche Muggenburgviertel, sondern am Zollpfad / Sandberg entlang und auf der Stephanikirchenweide. Die Bewohner der Muggenburg waren hier unter sich.

Die Muggenburg wurde im August 1944 völlig zerstört, genauso wie der 'alte Westen'. Nach dem Krieg wurde dieses Gebiet von der Stadt ins Hafen- und Gewerbegebiet integriert, so daß Wohnen hier nicht mehr möglich war, auch wenn z.B. viele Muggenburger am liebsten in ihrer alten Heimat wieder aufgebaut hätten. So erinnert heute außer einigen Staßenbezeichnungen und dem Muggenburg-Bunker so gut wie nichts mehr an diese beiden alten Bremer Viertel in Hafennähe.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Vorgeschmack auf den Bildband „Alter Westen und Muggenburg, 1860 – 1945“, herausgegeben vom Brodelpott Geschichtsarchiv (Temmen Verlag)