Die irre Erfahrung der Selbstbesichtigung

■ Bei der Ausstellung zum Kunstpreis der Böttcherstraße zaubern elf KünstlerInnen eine jahrmarkthafte und prickelnd aktuelle Atmosphäre in die Kunsthalle

„Und dann war mir aber schon schlecht geworden“, erinnert sich der Schweizer Künstler und Performer Franticek Klossner an seine letzte abenteuerliche Aktion und grinst. Wohl zum ersten Mal in der Kunstgeschichte hat sich ein Künstler röntgenfilmen lassen. Drei Minuten gestanden die Ärzte einer Klinik in der Schweiz dem 1960 geborenen Performer und seinem Experiment mit Kontrastflüssigkeiten entgegen allen Vorschriften zu. Drei Minuten lang konnte er „die irre Erfahrung“ machen, sich selbst zu sehen und zugleich durch sich hindurch zu sehen. Das Ergebnis ist jetzt vollkommen gefahrlos und ohne zeitliche Beschränkung in der Bremer Kunsthalle zu bestaunen.

Wie die documenta hat auch die Ausstellung zum alle zwei Jahre zu verleihenden Kunstpreis der Böttcherstraße etwas jahrmarkthaftes. Neun KunstkennerInnen und der Stifterkreis des Preises schlagen dabei zehn KünstlerInnen oder Gruppen vor, die durchaus schon bekannt sein können, aber im Kunstmarkt noch nicht zum Club der Millionäre gehören. Und die so zusammengestellte Ausstellung hat bislang immer eine prickelnde Atmosphäre des Aktuellen in die Kunsthalle gezaubert. Kurzum: Es macht auch bei der diesjährigen Böttcherstraßenpreis-Ausstellung einfach Spaß, die Kunsthalle zu erkunden.

Franticek Klossners Selbsterfahrung mit der Durchleuchtung flimmert als Video-Projektion an einer Wand. Sie ist Teil seiner etwas krude betitelten Installation „Kopf verrückt – Sinn zerstückt“. Hinter mit Sätzen wie „du wirst mich sehen, wenn du mich denkst“ beschrifteten Glasflächen treibt Klossner die Selbstschau bis an die Grenzen des möglichen: Endoskopische Aufnahmen der Stimmbänder, eine Echokardiographie vom Herz und andere Innenansichten bilden das eindrucksvolle Kabinett des Herrn Klossner und umkreisen ein Lieblingsthema vieler KünstlerInnen: die Frage nach der Identität.

Auch die Wahl-Berlinerin Regina Möller hat sich ihr verschrieben. Doch statt sich auf eine Reise ins Innenleben zu begeben, betreibt sie ein so raffiniertes wie handwerklich perfektes Spiel zum Schein und Sein. Dreifach verschieden gestylt plaziert sie sich als Covergirl auf den Titel eines Magazins mit Namen „regina“. Außen sind die inzwischen drei Ausgaben eine Frauenzeitschrift, innen aber sind es Künstlerbücher. Das Covergirl ist im prominenten Auftreten auf dem Titel Subjekt, doch durch die serielle Präsentation des Magazins in Zeitschriftenschubern ist das Subjektive zugleich vollkommen aufgehoben.

Neben dieser Beschäftigung mit dem Selbst ist bei dieser Ausstellung der völlig selbstverständliche Umgang mit der Videotechnik bemerkenswert. Fotografie fehlt diesmal völlig, Malerei dafür nicht. In großflächigen, farb- und formsatten Formaten breitet sich Daniel Richter auf den Leinwänden aus. „Wenn es etwas zu stehlen gibt, stehle ich es“, sagt der aus Eutin stammende Maler keck-postmodern. Doch ist dieser Satz freilich wieder nur Abwandlung und Imitat eines ganz ähnlichen Bekenntnisses von Picasso. Als Dieb ist der jedoch nicht in die Kunstgeschichte eingegangen.

Die Ausstellung zum Kunstpreis der Böttcherstraße, der 1985 von Bremer Kaufleuten gerettet wurde und mit privaten Spenden und Spielbank-Geldern auf einen Jahresetat von 70.000 Mark kommt, hat gleich im Eingang der Kunsthalle ihre Spuren hinterlassen. Wolfgang Winter und Berthold Hörbelt haben eines ihrer Gebäude aus Wasserkisten im Foyer errichtet.

Es ist ein Doppelhaus mit zwei identischen Hälften und somit ein dreidimensionaler Spiegel. Die einzigen, die sich nicht spiegeln, sind die Neugierigen, die das Innere des Baus erforschen wollen und dabei genauso verwirrt werden können wie Dieter Kiesslings zwei Videokameras. Diese beiden Kameras „versuchen“, „sich“ durch den Autofocus ein scharfes Bild voneinander zu machen. Doch dafür stehen sie einander zu nahe. Die Suche nach dem scharfen Bild wird zu einer so endlosen wie vergeblichen Prozedur, in der Kiessling sozusagen den Geist in der Maschine weckt.

Eine große, wieder überaus gelungene Installation des Marler-Video-Kunst-Preisträgers Bjørn Melhus, ein Zitat von Torres Plakatstapel von Olaf Nicolai, eine „ideale Galerie“ von Tilo Schulz, Insekten und andere Keramikarbeiten von Nicola Torke und eine Videoarbeit von Marcel Odenbach komplettieren die äußerst sehenswerte Ausstellung. ck

Ausstellung zum Kunstpreis der Böttcherstraße bis zum 2. Mai in der Kunsthalle. Eröffnung: morgen, Sonntag, 11.30 Uhr. Eine Jury entscheidet am 19. April über die Preisvergabe und händigt ihn am 25. April aus.