Das Jahrtausendfoto

Gerade arbeitete ein Kenner seines Faches im Auftrag der taz-Kulturredaktion an einem bahnbrechenden Essay zum Thema: „Warum in der Zeitungsfotografie schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind und weder im alten, noch im neuen Jahrtausend neue Ideen geboren werden – eine medienkritische Untersuchung in acht Kapiteln.“ Da fand er in seinem Morgen für Morgen auf dem Frühstückstisch landenden Zeitungsstapel dieses Bild auf der Titelseite der gestrigen Ausgabe der „Bremer Nachrichten“. Er stieß einen Fluch aus, denn sieben von acht Kapiteln sowie das Vor- und Nachwort samt Essaytitel sind nun umzuschreiben. Doch dann lächelte er, denn er hatte das Bild des Jahrtausends gesehen.

Während alle Paparazzi der Welt wieder und wieder und wieder die Vorderseiten und vor allem die Gesichter der Menschen fotografieren, weicht der unbekannte Schöpfer dieses Meisterwerks fast vollkommen von dieser Tradition ab. Es ist bei der Übergabe der Entlassungsurkunde durch Roman Herzog an Oskar Lafontaine entstanden. Mit Ausnahme der Person in der Bildmitte (Richard Holbrooke?), die in Reminiszenz an die alte Tradition teilverdeckt von vorne zu sehen ist, widmet sich der Meister dem Rücken der Menschen, der sofort die volle Aufmerksamkeit des Betrachters erregt. Die Rücken von Herzog und Lafontaine strahlen Macht und zugleich Ruhe aus. Sie scheinen die Person in der Bildmitte (Richard Holbroo-ke?) vor jeder Gefahr bewahren zu können. Ein Gefühl des Beschütztseins wird beim Betrachter geweckt. Er würde sich diesen beiden Menschen ohne zu zögern anvertrauen.

Das klug komponierte Meisterwerk wirft zugleich ethische Fragen auf: Ist es überhaupt richtig, Menschen von vorne abzubilden und Gesichter zu zeigen? Ist es nicht allein die Rückenansicht, die ihnen ihre Würde läßt? Der Kenner seines Faches hat der taz-Kulturredaktion sofort einen geänderten Essay angekündigt. Thema: „Die Revolution in der Zeitungsfotografie: Warum seit dem Ende des 20. Jahrhunderts alle abgefeimten Pantoffelvisagen, dummdreisten Platzbullengesichter, dumpfbackigen Pferdefressen, wabbeligen Knautschfratzen und knittrigen Hühnerfickerschnauzen aus den Printmedien verschwunden sind.“ ck