Höchstens mal ein Stinkefinger

■ Wie Berlin doch noch zur Hauptstadt wird: Die einst schrillen Proteste gegen den Regierungsumzug sind verstummt. Die Staatsmacht rückt unweigerlich an, und mit ihr auch ein Stück Bonner Normalität

Dunkle gepanzerte Wagen fahren in schnellem Tempo hintereinander vor. Fahrer springen aus den Limousinen, öffnen die Fonds, eilige Herren steigen aus, um durch die große Drehtür ins Innere des Kongreßhotel Estrel zu entfleuchen. Bodyguards mit Funkknöpfen im Ohr sind an Treppen, Türen und in der Halle postiert, schauen, bewachen und warten. Warten auf besondere „Vorkommnisse“, auf „auffällige“ Personen, eben auf Berlin und seine politischen Aktivisten.

Doch beim informellen Treffen der EU-Innenministerkonferenz im größten Kongreßhotel Berlins ist alles so, wie es in Bonn seit 50 Jahren fast immer zu sein pflegt: ruhig und ohne besondere Vorkommnisse. Berlin hat sich in seine Rolle gefügt, die Herren im grauen Zwirn treffen nicht auf den schwarzen Block.

„Natürlich verlassen wir uns auf gar nichts“, sagt ein Beamter des Bundeskriminalamts aus Bonn, der während der Konferenz in einer der zahlreichen Sitzecken im Foyer Platz genommen hat. Das Bundeskriminalamt habe den Ort routinemäßig nach Sicherheitskriterien überprüft, Sprengkörper gesucht, Eingänge gecheckt. Doch der Mann in Anzug und mit bunter Kaufhauskrawatte formuliert das so, als sei alles nur noch Erinnerung an eine andere Zeit, in der große Demonstrationen in Berlin zum Stadtbild gehörten, und zu einer Kultur, die sich über politische Aktionen von Obrigkeit und Bevormundung emanzipierte. „Früher, als ganz normaler Polizeibeamter, habe ich mal den Autonomen gegenüber gestanden. Da hatte ich Angst“, sagt ein Personenschützer, der es, was den Umfang seines Brustkorbs angeht, auch mit Arnold Schwarzenegger aufnehmen könnte. „Aber heute“, sagt er achselzuckend, „ist das doch alles nicht mehr so.“

Nur der Fahrer eines Bonner Ministeriums zieht die Kleinstadt am Rhein vor: „In Bonn herrscht mehr Ehrfurcht, wenn die weißen Mäuse kommen“, erzählt er in behäbiger Manier. „Die Bürger fahren sofort an den Rand.“ In Berlin hingegen bekomme man den Stinkefinger gezeigt.

Gleichwohl ist der Elan der einstigen Anti-Hauptstadtbewegung erlahmt. Noch vor einem Jahr hatten Künstler und Politologen, Antifa und Frauen aus der feministischen Arbeit mit großen Aktionen wie „innen!stadt!aktion“ und „Baustop.randstadt,-“ der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in der Öffentlichkeit für politische und künstlerische Präsenz gesorgt. Sie kritisierten die Verdrängung der sozial Schwachen, besonders im regierungsnahen Viertel Moabit. „Das künftige Regierungsviertel ist wie von einem Wall, einer Stadtmauer umgeben. Die Spree auf der einen Seite, die S-Bahn auf der anderen Seite“, sagt Jochen Becker, der bei „Baustopp.randstadt,-“ mitgemacht hat. Er befürchtet, daß es einen Austausch zwischen dem im Schatten liegenden Moabit und dem Regierungsviertel nicht geben wird. Es werde ein „Beamtenghetto“ entstehen, und die ärmere Bevölkerung werde verdrängt. Auch Klaus Weber von der „innen!stadt!aktion“ führt Beispiele an. Das „neue, saubere“ Berlin leiste es sich, Bänke in der Innenstadt so zu bauen, „daß sie nach zehn Minuten unbequem werden und nicht zum Verweilen einladen. Zum Schlafen schon gar nicht.“ Trotz aller Kritik, der Aufruhr in der Szene scheint erlahmt. Die Aktivisten werden „hauptstadtgewöhnt“.

Die Bonner Normalität, die sich in Berlin unmerklich breit macht, beschreibt Dieter Hinkefuß vom Hauptstadtbüro so: „An Weiberfastnacht werden sich die Bonner nächstes Jahren fragen, warum schneidet mir niemand die Krawatte ab?“ Und das wird auch schon alles sein: „Berlin ist keine unbedarfte Stadt.“

Für die neue Rolle finden die Berliner Hotels große Worte: Jean van Daalen, Geschäftsführender Direktor im Hotel Adlon beschreibt sie als mondän und glanzvoll: „Der Gegensatz, der heute Berlins neue Mitte ausmacht, ist auch im Adlon spürbar: die Erinnerung an den Glanz vergangener Zeit ebenso, wie die Aufbruchstimmung des neuen Berlin.“ Und auch das Kempinski hat sich offenbar mit seiner Rolle als Statthalter am Ku'damm gut arrangiert: „Noch nie hat ein Bundeskanzler wie in diesem Jahr die Berlinale eröffnet“, schwärmt eine Sprecherin des Hauses: „Berlin hat zwei Zentren und verträgt zwei Zentren.“ Es scheint, die Menschen sind in ihrer Hauptstadt angekommen. Andere haben sich zumindest mit der neuen Rolle versöhnt.

Nur die Polizei ist noch auf der Suche: Ohne weitere Verstärkung könnte eine sogenannte Sicherheitslücke entstehen, befürchtet Berlins Innensenator. Die Feuertaufe steht bevor. Am kommenden Mittwoch wird die Welt auf Berlin blicken: An diesem Tag findet in der Hauptstadt der EU-Gipfel statt und zumindest die deutschen Bauern sorgen dafür, daß der schillernden Metropole Traktorengeräusch in den Ohren klingt: 3.000 Bauern mit 400 Treckern wollen durch das Brandenburger Tor fahren. Sie demonstrieren gegen die Agenda 2000 und daraus resultierende Einkommenseinbußen.

Am selben Tag beginnt in der Türkei der Prozeß gegen den PKK-Füher Abdullah Öcalan. Eine Demonstration an diesem Tag fände fast automatisch vor laufenden TV-Kameras statt, denn die sind ohnehin schon vor Ort. Ist die Berliner Polizei hauptstadtfähig? Die Antwort wird am Abend dieses Tages gegeben werden. Annette Rollmann