Der Moralkodex einer Kirche

Mit den Beschlüssen seiner Vollversammlung glaubt das IOC die Grundlage dafür geschaffen zu haben, seinen Job in Zukunft „noch besser“ machen zu können  ■ Aus Lausanne Dirk Schmidtke

Wenn das Internationale Olympische Komitee (IOC) nach Lausanne, der „olympischen Hauptstadt“, zur Vollversammlung ruft, dann scheint den Olympiern standesgemäß die Sonne, der Genfer See ist blau, so blau, und kein Wölkchen mag die feierliche Stimmung trüben. Schon gar nicht solch häßliche Themen wie Korruption und Wahlbetrug. „Das IOC hat geliefert, was es vorher versprochen hat“, dekretierte der olympische Sonnenkönig Juan Antonio Samaranch den 700 internationalen Medienvertretern zum Abschluß der 100. Vollversammlung und prognostizierte: „Das IOC wird sein Prestige sehr, sehr bald zurückgewonnen haben.“

Der seit 1980 amtierende Katalane machte auch keinen Hehl mehr daraus, daß er seine volle Amtszeit bis zum Jahr 2001 auszufüllen gedenke. Gleich zu Beginn der Session hatte er sich vom Plenum bei ganzen zwei Gegenstimmen „mit überwältigender Mehrheit“ (so die IOC-Pressestelle) das Vertrauen aussprechen lassen. „Samaranch ist der Sieger dieser Session“, kommentierte der kanadische Vizepräsident Dick Pound, einer der Nachfolgekandidaten. „Wenn man bedenkt, daß er in der letzten Zeit jeden Morgen in irgendeiner Zeitung lesen mußte, wie sein Kopf gefordert wurde.“

Am Ende der Session war der 78jährige wieder ganz der alte. Während sein deutscher Adlatus Thomas Bach noch in kleinem Kreis darüber räsonierte, daß man für die versprochenen Reformen mindestens zwölf Monate Zeit benötige, versprach Samaranch schon für Ende dieses Jahres „ein neues IOC“. Und wo Bach noch die Frage, wer der künftigen Strukturkommission unter dem klangvollen Titel „IOC 2000“ vorsitzen soll, für offen hielt, sprach Samaranch kategorisch: „Selbstverständlich der IOC-Präsident.“

„Samaranch ist ja gar nicht so herrschsüchtig“, befand der deutsche NOK-Präsident Walther Tröger. „Er ist nur manchmal ungeduldig, und er delegiert ungern, weil er mißtrauisch ist.“ Tröger, der nicht mehr zum inneren Machtzirkel des IOC zählt, aber als loyal und olympiatreu gilt, fiel in Lausanne schon allein dadurch auf, daß er sich als einziger unter lauter Jasagern bei der Abstimmung über das Prozedere für die im Juni stattfindende Wahl der Winter-Olympia-Stadt 2006 enthielt. Nach dem neuen, freilich nur übergangsweise gültigen Modus sind den IOC-Mitgliedern keine Besuchsreisen mehr gestattet; ihnen bleibt nur noch die Endauswahl unter zwei von einem 16köpfigen Komitee vorselektierten Kandidaten.

„Ich habe nur deshalb nicht nein gesagt, weil es eine Interimslösung aus akutem Anlaß war“, sagte Tröger, der auf seine vorsichtige Art Kritik an der autokratischen Politik der Exekutive übte. „Die Mitglieder zu entmachten, das ist doch absolut kurzsichtig. Daß wir Samaranch wie erwartet das Vertrauen ausgesprochen haben, heißt ja nicht, daß er wirklich alles alleine machen soll mit seiner Exekutive. Es heißt, daß wir ihm helfen wollen, nach unseren Gesichtspunkten gemeinsam zu arbeiten.“

Ob diese Botschaft oben angekommen ist? Die IOC-Spitze jedenfalls übte sich während der Session in geschäftsmäßiger Selbstzufriedenheit. Dabei hat sie es fünf Monate nach Ausbruch des Skandals gerade erst einmal fertiggebracht, Krisenmanagement as usual zu betreiben. Sechs IOC- Mitglieder, die meisten von ihnen Mitläufer, wurden planmäßig ausgeschlossen. Zwei Kommissionen, die über Ethik und Strukturen nachdenken sollen, müssen erst noch ernannt werden; „hochstehende Persönlichkeiten“ von außerhalb, die für die notwendige Glaubwürdigkeit sorgen sollen, müssen erst noch gefunden werden. Erstmals wurde ein Halbjahresbericht, von einem unabhängigen Buchprüfer zusammengestellt, über die IOC-Finanzen veröffentlicht. Danach hortet das IOC 237 Millionen Dollar, als Sicherheitsreserve, wie es heißt, und zahlte dem Ehrenamtler Samaranch für seine Lausanne-Aufenthalte 204.000 Dollar Spesen.

„Die Strukturen sind am Platze, jetzt müssen wir sie mit Inhalten füllen“, gab sich Exekutivmitglied Bach zuversichtlich. Sein belgischer Kollege Jacques Rogge meinte auf die Frage, wie das künftige IOC aussehen sollte: „Effektiv wie ein Unternehmen, aber mit dem moralischen Kodex einer Kirche.“ Auch die amerikanische Vizepräsidentin Anita deFrantz zitierte himmlische Mächte herbei: „Ach Gott, die wichtigste Lehre aus dem Skandal ist doch, daß die Welt die Olympischen Spiele wirklich liebt; sonst würde sie sich nicht so sehr darum sorgen, daß wir unseren Job noch besser machen.“

Ob die frommen Worte vom Olymp auch auf der Erde vernommen werden? In den USA hat das Handelskomitee des Kongresses für den 14. April ein Hearing angesetzt. Zur Debatte stehen die Steuererleichterungen für Olympia- Sponsoren in Amerika. Unterdessen ermittelt das FBI weiter in Sachen Bestechung in Salt Lake City. Bei begründetem Verdacht könnten dort selbst IOC-Mitglieder vorgeladen werden. Und mit der Antidoping-Agentur, über deren Aufbau sich EU-Politiker mit dem IOC angelegt haben, ist man in Lausanne nicht viel weitergekommen. Es gab lediglich ein positives Votum zu deren Gründung von der vollen Mitgliedschaft. Leichtathletik-Präsident Primo Nebiolo und andere Verbandschefs fordern bei ihrer heute zu Ende gehenden Sitzung mit der IOC-Exekutive mehr Einfluß und mehr Geld. Düstere Wolken stehen weiterhin am olympischen Horizont. Am Tag nach der Session war der Himmel über Lausanne schon wieder grau.