Bis aufs Skelett der Worte

Weißer Fleck auf der Landkarte: Die Slowakei ist nach 1989 in weite östliche Ferne entrückt. Dabei entsteht dort eine durchaus moderne, europäische Literatur  ■ Von Balduin Winter

Da hinten die Slowakei – liegt sie nicht schon an der Wolga, am Uralgebirge, am Nördlichen Eismeer? Auch nach der Wende wird sie kaum wahrgenommen, fast scheint es, als ob sie noch weiter in den Osten gerückt ist. Das mag am Blickwinkel des Homo Atlanticus liegen, freilich auch bis vor kurzem am Land selbst, das bereits Züge einer Diktatur trug.

Mečiars Politik lähmte das Land auch in kultureller Hinsicht. Im Bereich der Literatur blieb die vom Realsozialismus bewirkte Spaltung erhalten, nur die Vorzeichen änderten sich. Die öffentlich publizierte und reichlich geförderte Literatur der nationalen Staatsschattengewächse produzierte bestenfalls Mittelmaß, während die unabhängige Literatur zwar Talente hervorbrachte, aber über keine Mittel verfügte, sie zu fördern. Aufgrund der geringen Auflagehöhen, der kleinen Zahl an Publikationsorganen und der Vertriebsprobleme ist professionelles Schreiben kaum möglich.

Nunmehr ist ein Umschwung zu erhoffen. Mit der neuen Regierung soll, so der Autor und Verleger Martin Šimečka, die Wende wirklich realisiert werden. Denn an Qualität mangelt es nicht. Schon die wenigen Texte, die heute aus dem Slowakischen übersetzt werden, lassen erahnen, daß sich slowakische Literatur durchaus internationalen Vergleichen stellen kann. Im Verlag Wilfried M. Bonsack in Berlin sind zwei Gedichtbände erschienen, „Kahlfrieren“ von Mila Haugová (Jg. 1942) und „Zwischenspiele Puppen (um) einen kopf kürzer“ von Ivan Štrpka (Jg. 1944).

Mila Haugová, die auch aus dem Deutschen übersetzt, war erst Lehrerin, bevor sie in den achtziger Jahren zur Literatur gelangte. Von Anfang an war klar, daß sie, inzwischen Grande Dame der slowakischen Lyrik, mit den Gestaltungskriterien des sozialistischen Realismus nichts im Sinn hatte. Ihre Lyrik bewegt sich zwischen Eros und Thanatos, es sind häufig existentielle Notate. Frost, Abgrund, Rauhreif, Dunkel, Tod sind die Koordinaten einer Frau, die emphatisch Annäherung, Liebe sucht, dafür „Entblößung bis aufs Skelett des Wortes“ betreibt; die vom Spiegel, den sie befragt, nicht angenommen, doch „verhört“ wird. Trotz aller Düsternis verwendet sie eine sehr sinnliche Sprache. Ihr Themenbogen ist weit gespannt, er reicht von Kassandra über slowakische Mythologie bis hin zum Einfluß Paul Celans, zwischen den Zeilen lassen Wittgenstein und Rilke grüßen. Haugovás Beschäftigung mit Philosophie und Psychoanalyse fließt eher nebenbei in ihre Gedichte ein.

Ivan Štrpka ist wohl der bedeutendste zeitgenössische Lyriker der Slowakei. Der Cervantes-, Borges- und Pessoa-Übersetzer war schon als junger Mann eine vom realsozialistischen System mißtrauisch beäugte Person. Er orientierte sich an den Beatniks und an Alan Silitoe, gründete mit anderen Dichtern eine Gruppe, die „Einsamen Läufer“, deren Manifest sich auf Enzensberger und Ginsberg berief. Wegen seiner Regimekritik durfte er zehn Jahre nicht publizieren. 1989 war er einer der Mitbegründer der Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“, einem Hauptprotagonisten der „Sanften Revolution“ in der Slowakei.

Štrpka baut in seiner Lyrik auf eine klar umrissene Mythologie und Symbolik auf. Es ist ein vielschichtiges Modell von Welt, durchaus auch mit romantischen Motiven, die sich in einem rhythmisch pulsierenden Prozeß der Veränderung befindet. Die vier Zyklen oszillieren um eine apokalyptische Schwelle, auf der die Verhältnisse zwischen Individuum und Gesellschaft, Sprache und Erkenntnis, Geschichte und Umkehr reflektiert werden. Das Buch endet am Meer, wo puppengewordene Menschen hinausfahren und Nietzsches „göttliches Gelächter aus voller Wahrheit“ anstimmen. Kein Zweifel, Štrpka geht es um Erkenntnis, Verbindlichkeit, Verantwortung für die dichterische Aussage.

Keine einfache Kost, die Haugová und Štrpka anbieten. Aber auch nichts „Fremdes“. Beide wurzeln in der abendländischen Kultur und sind mit den wichtigsten literarischen Tendenzen des Westens bestens vertraut. Beider Werke dokumentieren nachdrücklich, daß die Slowakei weit europäischer ist, als viele es hier wahrhaben wollen.

Mila Haugová: „Kahlfrieren“. Gedichte. 64 Seiten.

Ivan Štrpka: „Zwischenspiele Puppen (um) einen kopf kürzer“. 82 Seiten.

Beide Bände erschienen im Wilfried M. Bonsack Verlag, Berlin und wurden von Ursula Macht übersetzt