„Ich hätte genausogut tot sein können“

■ Zwei Rollstuhlfahrer besuchen regelmäßig die Spiele des FC St. Pauli im Millerntor-Stadion

Die automatische Glastür des Boberger Unfallkrankenhauses gleitet nahezu lautlos beiseite, als Volkmer Neumann und sein Stationsnachbar lautstark diskutierend die Empfangshalle verlassen: „Heute ist aber ein Sieg fällig“, fordert der 39jährige Michael Hagen. „Träum weiter!“, bremst Volkmer die Euphorie, ehe er die Bremsen an seinem Rollstuhl löst, um den Bus zu entern. „Hi, meine Name ist Dennis, und ich hab keine Ahnung, wo wir hin müssen“, stellt sich der Zivildienstleistende vor, der Volkmer und Michael vom Querschnittsgelähmten-Zentrum Bo-berg zum Millerntor chauffiert.

Doch darüber muß er sich keine Gedanken machen: „Fahr erst mal los, wir sagen dir dann, wo es lang geht“, beruhigt Vokmer den Ersatzdienstler. Während der halbstündigen Fahrt diskutieren die beiden über die mögliche Aufstellung und begutachten mißtrauisch die Tabelle, um dann am Ende festzustellen, daß es eigentlich gar nicht primär das Sportliche ist, was sie immer wieder zu St. Pauli treibt. Vielmehr sei es die Atmosphäre und die Art, wie „charmant chaotisch“ beim FC gearbeitet werde.

„Ich sitze im Rollstuhl, weil mir einer eine Ladung Schrot in den Rücken gejagt hat“, nennt Volkmer den Grund für seine lebenslängliche Lähmung. „Ich hatte Streit um etwas völlig Belangloses mit einem Menschen, von dem ich eigentlich dachte, er sei mein Freund“, erzählt Volkmer, während er ins Leere starrt, „und als ich gehen wollte, hat er mir aus zwei Meter Entfernung mit einer Schrotflinte in den Rücken geschossen.“

Nachdem Busfahrer Dennis zum Eingang hinter der Südkurve gelotst wurde und die beiden Rollis, wie sie sich selber bezeichnen, abgesetzt hat, fahren beide in den Innenraum des Fußball-Vierecks. „Eigentlich kann man als Rolli bei St. Pauli sehr zufrieden sein“, bekennt Volkmer. Die anderen Fans seien sehr tolerant, das Stadion wenig kantig und somit nahezu behindertengerecht. Einen Zustand allerdings prangern beide an: „Es gibt keinerlei Möglichkeit, als Rollstuhlfahrer auf die Toilette zu gehen, da die vorhandenen Container zu klein und nur über eine Stufe erreichbar sind“, lautet ihre dringliche Beschwerde zur Pause.

Nach einem halben Jahr im Krankenhaus versuchte Volkmer, wieder Lebensmut zu gewinnen: „Meine Liebe zum FC hat mich oft wieder aufgebaut, wenn ich dachte, es geht nicht mehr weiter.“ Zusammen mit seiner Freundin und seinen drei Kindern will er nach Pinneberg ziehen und eine Umschulung zum Datenverarbeiter beginnen. „Anfangs dachte ich, daß ich das alles nicht packe, aber meine Familie hat mir geholfen, wieder Freude am Leben zu finden“. Ein Leben, an dem er auch im Rollstuhl sehr hängt: „Ich hätte auch tot sein können.“

Bei einigen Szenen der zweiten Halbzeit hat man das Gefühl, als wollten Volkmer und Michael manchmal aus ihren Stühlen springen und den Ball ins Tor hämmern. Da werden Körpertäuschungen nachgeahmt, und der Frust über eine verpaßte Großchance strapaziert das malträtierte Reifenprofil auf das schärfste. Doch alles Schlagen auf die Armlehnen, all die angesetzten Pirouetten, die Volkmer und Michael in akrobatischer Manier auf dem Schwerpunkt der Hinteräder ihrer Gefährte ansetzen, können die 0:1-Niederlage nicht verhindern. Aber über eines sind die beiden sich einig: Es ist auf jeden Fall besser, eine Niederlage live am Millerntor zu erleben, als im Gemeinschaftssaals des Krankenhauses vor dem Fernseher zu sitzen.

Mike Glindmeier

Auch beim heutigen Spiel des FC St. Pauli gegen den 1. FC Köln (20.15 Uhr) werden wieder gut zwei Dutzend RollstuhlfahrerInnen das Millerntor besuchen.