Apokalypse als Woodstocksimulation

■ Roland Huhs inszeniert mit dem THEATER bizarr „Herr der Fliegen“ von William Golding im Schlachthof

Golding goes Pop, und das konsequent. Coolsprech und Schlager inklusive. „Boah ey, voll der Horizont!“, sinniert eine zugekifft am Strand hockende Touristin, nachdem ihr die Bewußstseinsschranken, konkret manifestiert in zwei schwarzen Mauern, geöffnet wurden. Somit ist klar, wo man diesmal gelandet ist: in den Psycho-Tropen.

Keine zehnjährigen Jungs auf der Bühne, wie in einer Theaterfassung empfohlen, sondern junge Erwachsene beiderlei Geschlechts. Daraus ergeben sich neue Charaktere, die im Roman fehlen: Harriet, Sheila, Jane und Ann zum Beispiel sind Schöpfungen von Regisseur Roland Huhs, die Zwillinge Sam und Eric (“Samneric“) werden zu Peggy und Sue – Peggy Sue. „Was passiert, wenn heute eine 'im Leben' stehende Bürokauffrau Mitte Zwanzig Ä...Ü nicht da ankommt, wo sie hinwollte?“ fragt Huhs im Programmheft – die Antwort gibt es auf der Bühne: Zunächst einmal durchwühlt sie ihre Koffer, die jedoch nur unbrauchbares Zeugs enthalten, schwelgt dann in Erinnerungen an schmerzlich vermißte Zivilisationsgüter (“So'n Mop für zwischen die Heizung“), um schließlich langsam aber sicher dem kollektiven Wahnsinn zu erliegen. So schwankt das drastisch überzeichnete Inselgeschehen zwischen dolce vita und Paranoia, zwischen „Strandclique“ und „Apocalypse Now“.

Fleisch gibt's bei Jack (mitunter grandios witzig: Stephanie Schadeweg). Die „kompetente Reiseleitung“ entledigt sich freiwillig der Insignien ihrer Kompetenz, Schirm, Schal und Jackett, zieht sich nackt aus – nicht wirklich, die weiße Unterwäsche symbolisiert Nacktheit. So wird klar, wer zu der Gruppe der Zukunftsplaner um Ralph (Roland Rödermund) und wer zu Jack's Hedonistenverein gehört: erstere trägt khakifarbenes Büro-Outfit, letzterer bevorzugt legere Beachwear. Interessant die Verschiebung der Sympathien: ist der vernünftige Ralph im Roman noch der Held, so gerät er in Huhs' Fassung zu einer ordnungsversessenen Spaßbremse. Jacks Philosophie scheint da attraktiver – heute Party und morgen der Kater. Daß die Party zu einem Blutbad gerät, hat schließlich keiner so richtig gewollt.

Ein weiterer Charakter, der im Roman fehlt, ist der klampfende Charon (Lorenz Marold), mythischer Fährmann, der die Toten über den Styx rudert. In einer Szene im ersten Teil des Stückes legt er Piggy (Nils Rossow) eine Münze auf die Zunge – das Fährgeld. Piggy, der im Roman vom Vierauge zum Zweiauge mutiert, da ein Brillenglas zerbricht, ist hier von vornherein blind. Er spüre, so Huhs, was um ihn herum schiefläuft – dazu brauche er nicht zu sehen. Immer wieder wird die Theaterrealität gebrochen: „He, du kannst hier nicht so rumspringen, du spielst doch einen Blinden!“. Realitätsbrüche und Collagetechnik: Die zuvor in gemeinsamer Improvisationsarbeit entwickelten Szenen werden mit beabsichtigten Sprüngen aneinandermontiert. Die Inszenierung besteht aus Flickwerk, holpert jedoch nie so stark, daß man nicht mehr zu folgen gewillt ist.

Huhs ist nach der Devise „Klotzen statt Kleckern“ vorgegangen – ein aufwendiges Bühnenbild mit von der Decke hängenden Käfigen, einem Wassergraben, Sand und beweglichen Wänden. Gekleckert wird aber trotzdem: mit Wasser, Schlamm, Farbe und Blut, so daß das Bühnenbild gegen Ende gemeinsam mit den versifften Akteuren wie eine Woodstock-Simulation daherkommt. „Schweine schlachten und Feuer machen hätte der Schlachthof nicht erlaubt, da mußten wir uns was anderes ausdenken“, sagt Huhs. Harriet (wahnsinnig wahnsinnig: Berit Eichler) hält spontan einen Monolog über den Nutzen und die Gefahren des Feuers. Also statt Feuer Wunderkerzen, die reihum verlöschen und reihmum wieder angesteckt werden müssen. Das Feuer darf nicht ausgehen.

Der ultimative Realitätsbruch erfolgt am Ende: gerade als Ralph vom blutgeilen Pöbel gemeuchelt werden soll, erscheint Charon, verkündet „das Spiel ist aus“ und hilft den Toten auf die Beine. Aufgrund dieser Reanimationen kann man das Happy End ruhig glauben – oder doch nicht? Wencke Myrhe singt jedenfalls „die Erde dreht sich, keep smiling“. Ganz schön zynisch. Tim Ingold

Weitere Aufführungen: 22. April und 20. Mai um 20.00 Uhr