Eine grüne FDP ist nicht das Ziel

Den Berliner Grünen droht ein neuer Richtungsstreit: Soll sich die Partei künftig als sozialliberal oder als sozialökologisch profilieren? Momentaufnahmen eines Parteitags  ■ Von Dorothee Winden

Mißtrauen ist Trumpf bei der grünen Basis. Beim Parteitag der Berliner Grünen wittert ein Delegierter am Freitag abend eine Verschwörung. Eben erst hat er erfahren, daß gleich eine einstündige Generaldebatte zur Lage der Partei beginnt, die vorher nicht angekündigt war, und nun zaubert ein Abgeordneter auch noch eine Resolution aus dem Hut.

Besagter Abgeordneter, der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Michael Haberkorn, ist „total sauer“ über das miserable Erscheinungsbild der Grünen auf Bundesebene. Er ist nicht der einzige, der Jürgen Trittins Äußerungen im Stern unerträglich findet. Der Unmut geht quer durch alle Lager. Von wegen Rot-Grün sei tot! Haberkorn will den grünen BundespolitikerInnen mit seiner Resolution die gelbe Karte zeigen: Wer nicht mehr genügend Optimismus für Rot-Grün aufbringe, solle zurücktreten.

Das ist Fraktionschefin Michaele Schreyer denn doch zuviel. Sie schreitet zum Rednerpult und beantragt, daß über den Antrag erst gar nicht abgestimmt wird: „Wir sollten den Turbulenzen nicht noch eine weitere hinzufügen“, sagt sie. Eine deutliche Mehrheit läßt die spontan verfaßte Resolution in der Versenkung verschwinden.

Die darauf folgende Generaldebatte zur Lage der Partei verdient den Namen allerdings nicht. Vor den Delegierten liegt die Mammutaufgabe, die zahlreichen Änderungsanträge des Wahlprogrammes für die Abgeordnetenhauswahlen am 10. Oktober zu beraten. Da blieb im Vorfeld wenig Zeit, eine innerparteiliche Debatte über eine mögliche Neuorientierung der Grünen zu führen.

Sollen die Grünen sich verstärkt als sozialliberale Kraft oder eher als sozialökologische Kraft positionieren? Darüber haben sich allenfalls einzelne schon Gedanken gemacht. Der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele sieht die Grünen vor einem neuen Richtungsstreit.

Seine Fraktionskollegin Franziska Eichstädt-Bohlig erklärt in ihrer Rede, die Grünen müßten ein „integriertes Modernisierungsprogramm“ entwickeln. Darin müßten die Belange der Wirtschaft berücksichtigt, zugleich aber mit sozialen Fragen verknüpft werden. Weitere Zutaten: der schlanke Staat und das Eintreten für Bürgerrechte. „Wenn wir das nach vorn bringen, können wir bestehen“, sagt Eichstädt-Bohlig. Mit einem solchen Modernisierungsprogramm würden sich die Grünen auch deutlich von der FDP mit ihrem eindimensionalen, wirtschaftsliberalen Modernisierungsprogramm abheben.

Nur vereinzelt finden Eichstädt- Bohligs Vorstellungen, die auf der Linie von Joschka Fischer liegen, im vergleichsweise linken Berliner Landesverband Zustimmung. Als ausgewiesener Realo meint der frühere Kreuzberger Bildungsstadtrat Dirk Jordan: „Das wäre einen Versuch wert. Das wäre nicht die grüne FDP, sondern ein anderer Mix.“ Die Skeptiker überwiegen. „Das ist die Neue Mitte“, kritisiert Monika Herrmann von der Bezirksgruppe Kreuzberg, einer Bastion der Linken. „Die Richtung bringt nichts, dann unterscheiden sich die Grünen nicht mehr von anderen Parteien.“ Auch das frühere Bundesvorstandsmitglied Kambiz Behbahani meint: „Die Grünen müssen sich von der Mitte abgrenzen.“ Dort werde es ohnehin eng.

Auch Fraktionschefin Renate Künast, einer pragmatischen Linken, gehen Eichstädt-Bohligs Überlegungen zu weit: „Das bedeutet, die Partei im Koordinatensystem massiv zu verschieben. Nützen wird uns das auch nichts.“

Das wirtschaftspolitische Papier, in dem einige grüne Bundestagsabgeordnete letzte Woche u.a. eine Senkung des Spitzensteuersatzes vorgeschlagen haben, stößt im Berliner Landesverband auf erhebliche Vorbehalte. „Das muß in Ruhe diskutiert werden“, fordert Künast. Im übrigen hält sie es für wichtiger, zunächst einmal die handwerklichen Schwächen der Grünen bei der Vermittlung ihrer politischen Ziele in den Griff zu kriegen. „Es reicht!“ sagt sie Richtung Bonn. „Vor der Wahl haben wir von der Parteispitze immer zu hören bekommen, wir müßten regierungsfähig werden. Diese Aufforderung geben wir jetzt zurück an die Spitze“, sagte sie unter dem Beifall der Delegierten.

Das umstrittene wirtschaftspolitische Papier einiger Bundestagsabgeordneter stößt auch bei Christian Ströbele auf Widerspruch. „Das sind nicht die Signale, die uns helfen.“ Es sei falsch, die Unternehmenssteuer für alle Betriebe pauschal senken zu wollen. Dies komme allenfalls für kleine und mittlere Betriebe in Betracht. Grünes Ziel müsse die Steuergerechtigkeit sein. Er erwartet zwar nicht, daß der Richtungsstreit die Grünen in eine Zerreißprobe führe, aber er rechnet mit einer „ganz ernsten Auseinandersetzung.“

Ströbele spricht sich dafür aus, daß die Grünen nach dem Rücktritt Lafontaines stärker sozialpolitische Themen für sich reklamieren. „Die Grünen sollten sich als Partei der sozialen Gerechtigkeit profilieren.“ Eichstädt hält das für unrealistisch: „Den Lafontaine-Flügel können die Grünen nicht ersetzen. Diesen Handlungsspielraum für den linken Flügel gibt es gar nicht.“

So weit sind Eichstädt-Bohlig und Ströbele letztlich aber nicht voneinander entfernt. Auch der Linke Christian Ströbele plädiert dafür, wirtschafts- und sozialpolitische Komponenten miteinander zu verbinden. „Beides muß austariert werden.“ Die Grünen dürften aber auch ihre traditionellen Themen wie die Umweltpolitik nicht vernachlässigen. „Wenn wir die soziale Gerechtigkeit als Ziel aufgeben, geht bei der Abgeordnetenhauswahl was schief“, meint er und verweist darauf, daß für den Berliner Landesverband die soziale Frage schon immer einen hohen Stellenwert hatte.

Auch der langjährige Fraktionschef Wolfgang Wieland sieht eine Chance im Versuch, soziale und wirtschaftspolitische Fragen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Die SPD sei daran gescheitert. „Die Quadratur des Kreises muß jetzt von uns geleistet werden.“ Die Grünen hätten bereits zahlreiche Vorschläge für den Umbau des Sozialstaates erarbeitet. Dennoch müßten die Berliner Grünen auch Umweltpartei bleiben. „Jeder Imagewandel, der das vergißt, ist falsch“, so Wieland.

Doch während die Berliner die Bonner des Dilettantismus bezichtigen, ist ihnen selbst eine Panne unterlaufen: In der letzten Woche hatte eine geplante Nahverkehrsabgabe Schlagzeilen gemacht. Nun stellte sich heraus: Der Vorschlag war längst hinfällig und nur irrtümlich im Entwurf des Wahlkampfprogrammes aufgetaucht.

Ohnehin haben die Berliner Grünen derzeit noch ganz andere Probleme. Vor der Abgeordnetenhauswahl im Herbst stehen die Chancen für einen rot-grünen Politikwechsel an der Spree derzeit schlecht. Nicht die geringste Spur von Aufbruchstimmung. „Die große politische Schwungwelle fehlt“, so Wieland. Und auch Renate Künast stellt fest: „Wir müssen erstmal klären: Wie erzeugen wir einen Ablösungsschwung in der Stadt?“

Derweil feilen im Foyer realpolitische und linke Abgeordnete einträchtig am wirtschaftspolitischen Programmteil. Mit Schere und Kleber werden neue Textpassagen als Schnipsel eingefügt. Am Ende sind alle zufrieden, und auch in der Frage, ob die Überschrift „nachhaltig“ oder „zukunftsfähig“ heißen soll, einigt man sich gütlich. Nun heißt es: „Nachhaltig und zukunftsfähig“. So einfach wird sich die Partei beim Richtungsstreit allerdings nicht aus der Affäre ziehen können.