Familienkultur der Intoleranz und des Hasses

■ Die Thesen des westdeutschen Kriminologen Christian Pfeiffer über die Ursachen der Ausländerfeindlichkeit in den Neuen Ländern sorgen für Furore. Sein Blick richtet sich auf die Geschichte, nic

taz: Jugendliche wurden zu DDR-Zeiten für das Kollektiv abgerichtet, das hat sie für die heutigen fremdenfeindlichen Schlägertrupps prädestiniert. Diese von Ihnen vertretene These erregt die Ost- Gemüter. Läßt sich Ihre These untermauern?

Christian Pfeiffer: Schon die Zahlen sprechen für sich. Die Zahl der Jugendlichen pro 100.000, die ausländerfeindliche Delikte begehen, ist im Osten fünf- bis sechsmal höher als im Westen. Und im Osten werden diese Gewalttaten etwa doppelt sooft aus der Gruppe heraus begangen wie im Westen.

Was ist die Erklärung für diesen deutsch-deutschen Unterschied?

In der DDR ist in den Krippen und Kindergärten sehr stark gruppenorientiert erzogen worden. Nicht die Individualität wurde gefördert, sondern es zählte Disziplin, Ordnung und Sauberkeit. Wie im alten Preußen war eher der Untertan als der mündige Bürger das Erziehungsziel. Zudem sind viele Kinder nicht sattgeworden an elterlicher Erziehung. Die Großgruppe in Kindergarten oder Krippe war kein Ersatz, wenn man dort eine Erzieherin mit 17 anderen Kindern teilen mußte. Das einzelne Kind kam dabei zwangsläufig zu kurz. Verschiedene DDR- Sozialwissenschaftler haben bereits vor Jahren auf die problematische Folgen dieser Entindividualisierung hingewiesen, auf die emotionale Kälte.

Die Diskussion um die Krippenerziehung ist nicht neu. Im Westen wurde sie schnell als konservatives Gegenargument gegen die Berufstäigkeit der Mütter gewendet...

Die Schlußfolgerung „berufstätige Mütter ist gleich ein potentiell rechtes gewalttätiges Kind“ ist natürlich verkürzt. In den USA arbeiten viel mehr Frauen ganztags als bei uns. Der Unterschied: Die Kinder werden in Kleingruppen betreut und für eine kürzere Zeit am Tag. Gleichzeitig müssen die Kinder nicht zwanghaft sauber sein, wenn sie in die Krippe kommen.

Was macht nun den Unterschied der Sozialisationstypen Ost und West aus?

Ostdeutsche hatten weniger Chancen, zu einem gelassenen Selbstbewußtsein heranzureifen. Die Folge: Wenn sie etwas Verbotenes tun, suchen sie viel stärker Zuflucht in der Gruppe, tendieren eher zum Mitläufertum. Eine Form sind dann eben Gewalttaten aus Gruppen heraus. Hinzu kommt ein zweites: Die rechten Gruppen pflegen ja das Image, daß hier wahre Männerfreundschaft gepflegt wird, unverbrüchliche Treue, daß man sich aufeinander verlassen kann und Anerkennung in der Gruppe bekommt. Das alles ist verführerisch für Kinder, die nach dem Motto groß geworden sind, allein bist du schwach, gemeinsam sind wir stark. Dieser sozialistische Grundsatz wirkt sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen negativ aus. Hier der alte, wenn auch pervertierte Gedanke der Klassensolidarität, dort die stärkere Betonung der Individualität – da haben wir wirklich einen kulturellen Unterschied. Damit will ich den Westen nicht als ideal darstellen. Die Gruppenorientierung hatte im Osten immerhin zur Folge, daß Kinder weniger mißhandelt und Mädchen weniger sexuell mißbraucht wurden, weil es weniger Gelegenheit dazu gab.

Also haben wir im Westen ein größeres Problem mit individueller Gewalt?

Ja. Auf der einen Seite gab es im Westen mehr Möglichkeiten, sich persönlich optimal zu entfalten. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine größere Zahl von Kindern, die massive Opfererfahrung erleben. Aber diese setzt sich nicht um in Ausländerfeindlichkeit, sondern zum Beispiel im Erlernen einer Opferrolle bei Mädchen, die dann an einen Typen geraten, der sie auch wieder vergewaltigt oder schlagen wird.

Die für Gewalt und Ausländerfeindlichkeit anfälligen Jugendlichen, so schreiben Sie, kommen meist aus kaputten Familien der unteren Mittelschicht. Sie sind also nicht nur Produkt der Krippenerziehung, sondern auch der gestörten Beziehungen im Elternhaus?

Ich sage ja nicht, daß die Krippe linear zur Ausländerfeindlichkeit hinführt, sondern in der Kombination von „emotional zu kurz kommen in der Krippe“ und einer nicht optimalen Familiensituation, wo man erneut zu kurz kommt, weil die Eltern gerade Konflikte haben. Also sind letztlich wieder einmal die Väter und Mütter schuld, wenn es bei den Kindern schiefläuft? Das wird den Konservativen, die auf die Kräfte der heiligen Familie schwören, gefallen.

Es kommt ein weiteres hinzu, die Idealisierung der eigenen Welt und die Haltung: Schuld an allem sind die Feinde draußen. Im letzten Standardwerk der DDR für die Ausbildung von Lehrern wurde explizit die Erziehung zum Haß gefordert. Kinder, die in einer Welt groß werden, die alle Schwierigkeiten dem äußeren Feind zuschreibt, werden auch später diesen Sündenbock suchen. Und das ist heutzutage der Ausländer.

Viele DDR-Bürger hatten bereits eine Abneigung gegen Türken, gegen Asylbewerber, noch ehe sie die Chance hatten, welche kennenzulernen. Da scheinen doch so manche Feindbilder aus dem Westen Richtung Osten transportiert worden zu sein.

Das ist richtig. Anfang der neunziger Jahre gab es ja die quälend lange Debatte über den sogenannten Asylkompromiß. Das war in erster Linie eine westdeutsche Debatte, daß die Asylbewerber schuld seien am Zusammenbruch des Sozialstaats und vieles mehr. Diese Debatte hatte sicherlich massive Wirkungen im Osten. Es gab nach der Wende einen Konflikt um Zuwendung. Die Ostdeutschen fühlten sich vernachlässigt in einer Situation, als sie hart mit dem radikalen Wandel ihrer Lebenswelt kämpfen mußten. Die Menschen im Westen hat das überhaupt nicht interessiert. Sie haben nur über die Last der Asylbewerber diskutiert. Eine Quelle für die Ausländerfeindlichkeit im Osten ist die unsensible Debatte über das Asylthema im Westen.

Haben wir es im Osten also mit einer geschlossenen Neidstruktur zu tun?

Ja, auf den Westen und auf die Ausländer, die angeblich nicht arbeiten, aber einen Mercedes fahren.

Liegt im Osten also eine emotionale Deprivation statt eine sozialen vor?

Seit Anfang der neunziger Jahre zeigen alle Untersuchungen, die es zu Rechtsradikalen in Ostdeutschland gibt, übereinstimmend: Die Täter sind überwiegend nicht unmittelbar von Armut betroffen, nicht unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht, auch ihre Eltern nicht. Sie kommen zwar nicht aus der Schicht der Studenten, Gymnasiasten und Fachoberschüler, die gerade den Start nach oben durchziehen, aber sie gehören auch nicht den extremen sozialen Randgruppen an. Sie sind bestenfalls von Ängsten bedroht, daß sie dort landen könnten, aber im Augenblick der Tat sind sie es nicht. Man fühlt sich von sozialem Absturz bedroht und fragt, wer ist denn schuld daran? Man landet dann schnell bei den Ausländern. Solche Kurzschlüsse sind mit einer einigermaßen gelungenen Sozialisation nicht normal.

Also sind wir doch wieder bei den Familien angelangt?

Die Frage lautet doch, wie kommt es, daß eine soviel größer Zahl von Menschen ausländerfeindliche Gefühle im Bauch hat.

Ja, wie kommt's?

Bislang hat man sich bei Untersuchungen darauf beschränkt, Jugendliche aus dem Osten und Westen miteinander zu vergleichen. Außen vor blieben die über 30jährigen. In Sachsen-Anhalt hat man dies nun erstmals gemacht. Ergebnis der Studie: Die Vorurteile gegenüber Ausländern waren bei den Älteren noch massiver als bei den Jüngeren. Die Autoren kommen zu der Einschätzung, daß die jüngeren Leute sich bei ihren Delikten als Vollstrecker eines heimlichen Volkswillens fühlen.

Ein Triumph der kleinbürgerlichen Piefigkeit?

Ich würde es nicht so aggressiv ausdrücken. Aber wir haben im Osten offensichtlich bei den meisten Tätern eine Familienkultur, die von Intoleranz und Ausländerfeindlichkeit geprägt ist. Die Eltern waren ja noch viel stärker dem DDR-Erziehungssystem ausgesetzt als die heute 16jährigen.

Was fangen wir nun mit Ihren Überlegungen zur DDR-Erziehung an?

Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart, hat Richard von Weizäcker in seiner Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes gesagt. Er forderte dazu auf, sich zu erinnern, da Erinnern der Weg zu sich selber ist. Damit wäre viel gewonnen. Das geht aber nicht durch einen Besserwessi wie mich. Ich hoffe, daß die Ostdeutschen untereinander Erfahrungen austauschen und mit Erinnerungsbildern beginnen. Wenn zum Beispiel Christa Wolf oder Dagmar Schipanski, die Bundespräsidentschaftskandidatin, plötzlich anfingen, über DDR-Erziehung zur reden, dann wäre viel gewonnen.

Was empfehlen sie als Kriminologe Ausländern, die in den Osten fahren?

Vorsicht. Statistisch ist das Risiko eines Ausländers im Osten überfallen zu werden 25mal höher als im Westen. Damit liegt es im übrigen etwa fünfmal höher als das Risiko einer Frau im Osten, vergewaltigt zu werden. Frauen sehen sich auch vor. Interview: Edith Kresta