Professor Freuds Hammer haut alles kaputt

Auggies Chef ist jetzt Izzys Chef, Lou Reed spielt sich wieder selbst, und auch sonst sieht Paul Austers Film „Lulu on the Bridge" wie „Smoke 2“ aus. Statt zu rauchen oder zu plaudern, müssen die Menschen nun allerdings sentimental über Liebes- und andere Nöte grübeln  ■ Von Philipp Bühler

Ist „Lulu on the Bridge“, der neue Film, zu dem Paul Auster das Drehbuch geschrieben hat, die Fortsetzung von „Smoke“ und „Blue in the Face“? Zur Klärung entwerfen wir mal ein alternatives Szenario. Wer „Smoke“ kennt, mag sich „Lulu“ etwa so vorstellen: Dem alternden Gemütsmenschen Auggie geht sein Zigarrenladen in Brooklyn über alles. Eines Tages wird er überfallen und niedergeschossen. Er überlebt, muß aber den Laden aufgeben. Er fühlt sich deprimiert und leer. Ziellos wandert Auggie durch die Straßen New Yorks...

Und da kommt er schon! Es ist wieder Harvey Keitel. Das verschmitzte Lächeln, das er in „Smoke“ gelegentlich tragen durfte, ist allerdings verschwunden, denn „Lulu“ ist eine Tragödie. Ansonsten ist Izzy ein Charakterdouble von Auggie. Dazu begegnet er ständig Leuten, die uns bekannt vorkommen. Auggies Chef ist jetzt Izzys Chef. Izzy verliebt sich in Mira Sorvino, der vor Auggies Laden die Handtasche stibitzt wurde. Lou Reed ist ebenfalls dabei. Trickreich gibt er einen Kerl, der aussieht wie Lou Reed!

Wir sehen: Paul Auster, der bei „Lulu“ auch zum ersten Mal Regie geführt hat, ist jetzt ein New Yorker Autorenfilmer und vertraut auf ein eingespieltes Team. Wie auf das kalkulierte Selbstzitat, aber die Besten machen das genauso, und um ehrlich zu sein, hätten wir ja gar nichts gegen „Smoke 2“. Doch in „Lulu“ wird nicht geraucht. Und auch nicht geplaudert. „Lulu“ verhandelt die ganz schweren Themen menschlicher Existenz: Gut und Böse, Schuld und Sühne, die Liebe und andere Kleinigkeiten.

Der Zufall ist eine verirrte Kugel

Alles fängt wieder mit einem dieser widerlichen kleinen Zufälle an, denen Auster so gerne alle Macht über unser Schicksal überschreibt. Der Zufall als ideologisches Konstrukt aber ist per se reaktionär und kommt daher im Kino am liebsten in Gestalt einer Pistole daher. Eine verirrte Kugel, abgefeuert von einem verwirrten Jüngling im Todesrausch, trifft ausgerechnet den Saxophonspieler Izzy Maurer und durchschlägt seine Lunge. Izzy überlebt, aber das mißratene Brüderchen des Zufalls ist die Ironie: Jetzt, da er Stadtgespräch ist, nutzt ihm die Popularität nichts mehr, denn einen Saxophonisten mit nur einem Lungenflügel wird es nie geben. Izzy Maurer, dem das Leben außer der Musik nie etwas geboten hat, existiert nicht mehr. Wiedergeboren als Mann ohne Eigenschaften, kann nun alles passieren, sogar eine große Liebe.

Doch zuerst stürzt er in eine Sinnkrise, aus der ihm die besten Freunde nicht heraushelfen können. Und wie er so mitleidig aus der Wäsche schaut, beginnen wir zu ahnen, daß sein Vorleben mit Musik nicht weniger trübe verlief. Nur ein Wunder kann die Geschichte noch retten, das weiß auch Auster. Deshalb folgt bei ihm auf entropischen Stillstand stets der Einbruch des Unerwarteten. In der Aktentasche eines Toten findet der desparate Izzy einen geheimnisvollen Stein, der schwebend das Dunkel in blaues Licht taucht. Verdattert folgt Izzy dem einzigen Anhaltspunkt, einer beiliegenden Telefonnummer, die ihn zu der ebenso ahnungslosen Celia (Mira Sorvino) führt. Durch die verbindende Kraft des mysteriösen Steins verstricken sich die beiden in eine gestelzte Romanze. Und das ist das wirkliche Wunder, denn Izzy ist ein reichlich unsympathischer Zeitgenosse. Doch hilfreich und gut macht ihn der Stein. Er vermittelt der kleinen Schauspielerin eine Hauptrolle in einer Verfilmung von Wedekinds „Lulu“.

Warum Lulu? Was hat sich Auster dabei gedacht? Auch wenn er uns nicht einmal erklären müßte, was der schlechthinige Vamp an Izzy finden sollte — das blaue Wunder genügte uns vollkommen —, die treuherzige Mira Sorvino ist nichts weniger als Wedekinds Lulu. Die „Verkörperung primitiver Sexualität“, die Frau, „die Männer zum Frühstück ißt“. So müssen wir ihm einfach abkaufen, daß Celia die Idealbesetzung ist, und ein ganzer Erzählstrang läuft völlig beziehungslos neben dem anderen her. Der Film bricht auseinander wie die Liebe der beiden. Celia entschwindet zum Dreh nach Irland, Izzy soll nachkommen, doch er wird von den bitterbösen Jägern des verlorenen Steins unter Führung des irren Pychiaters Dr. Van Horn (Willem Dafoe) gekidnappt. Vor ihm und vor uns, in einem dunklen Verlies, muß sich Izzy nun für sein lahmes Leben rechtfertigen. Endlich steht die Kamera still, und es wird viel erzählt. Für wenige Szenen ist Auster in seinem Element, der schicksalhaften Anekdote, und der quälenden Selbstsuche, in der die Seele Gefängnis des Körpers ist. Warum nicht mehr davon?

Paul Auster zählt sich gern zum Club der toten Dichter. Nicht der Autor schreibe das Buch, sondern der Leser, der den Text nur als Sprungbrett für die eigene Phantasie benutze. „Smoke“ war das perfekte Vehikel dieser Idee. Es passierte zwar nichts, dafür wurden die erstaunlichsten Geschichten erzählt, und es bescherte einen ungeahnten Lustgewinn, sich wie beim Lesen eines spannenden Buchs die Bilder zu diesen Anekdoten selbst zu malen.

In „Lulu“ hingegen passiert unglaublich viel, doch erzählt wird sehr wenig. Man stelle sich vor, Auggie, der traurige Knabe, der jeden Morgen ein Foto von seinem Laden macht, bekäme seine eigene Story. Und wir müßten sie uns in voller Länge ansehen. Da wird zum langatmigen Plot, woraus „Smoke“ eine verblüffende Anekdote gemacht hätte – auf der Jagd nach der großen Erzählung hat Auster seine Stärken vergessen. Denn ein toter Autor wie er kann nicht lebendig erzählen. Das können nur seine Figuren.

Selbst Wim Wenders sagte dankend ab

Das Problem ist also nicht, daß Auster diesmal selbst Regie führt. Seine Vorlage von „Smoke“ hätte auch Wim Wenders, der für „Lulu“ dankend abgesagt hat, ohne Schaden verfilmen können. Oder eben Auster. Das Problem ist eine unnötig sentimentale Story, der unglaubwürdige Charaktere und schlechtes Casting den Rest geben. Und ein Schluß, für den Professor Freud mit einem dicken Hammer vorbeikommt und alles kaputthaut. Der magische Stein wird zum billigen Wunschmaschinchen, eine wenigstens phantastische Geschichte verkehrt sich in irdischste Banalität. Unnötig hochtrabend wäre es aber, nun über das Ende der großen Erzählungen zu sinnieren. Im Grunde hat Paul Auster nur einen schlechten Film gemacht.

„Lulu on the Bridge“. Buch und Regie: Paul Auster; mit Harvey Keitel, Mira Sorvino, Willem Dafoe u.a., USA 1998, 104 Min.