„Mörder nehmen wir nicht“

Der eine hat sein Elternhaus angezündet, der andere Ausländer verdroschen. Geschlossene Heime werden in Ostdeutschland wieder gesellschaftsfähig  ■ Aus Ueckermünde Heike Haarhoff

Brandstiftung.“ Gregor* lümmelt sich auf seinem Bett. „Ausnüchterungszelle.“ Sein Oberkörper wippt bei jeder Silbe mit. Er weiß, er hat schon viel preisgegeben. Er merkt, daß mehr von ihm erwartet wird. Was also noch erzählen, damit die Frau ihm gegenüber aufhört mitzuschreiben? Also wiederholt er nochmals: „Ausnüchterungszelle.“ An die kann er sich genau erinnern. Auch an die Nacht, die er darin verbrachte, damals an diesem Mittwoch im vergangenen Oktober, „als die mich geschnappt haben“.

Die Stunden davor kann er nur mit Mühe rekonstruieren. „Ich hab' versucht, ein Wohnhaus anzustecken“, im Vollsuff, mit Feuerzeug und Benzinkanister. „Da wohnte meine Mutter drin“, sagt er knapp, und ebenso knapp fügt er hinzu: „Ein Glück, daß nur die Gardinen gebrannt haben.“ Er verschränkt die Arme unter seinem grauen Skippi, der fast bis zu den Knien seiner Cordhose reicht. Es klopft.

Es ist Gregors Sozialarbeiter. „Alles in Ordnung? Kann ich Sie noch mit ihm allein lassen?“ Die Sorge ist groß, sobald sich die Presse interessiert für jugendliche Kriminelle und ihre Unterbringung in Erziehungsheimen als Alternative zur Untersuchungshaft. Seit im vorigen Sommer der Mord an einem Hamburger Lebensmittelhändler durch zwei Teenager bundesweit für Schlagzeilen sorgte und minderjährige Straftäter an Stammtischen und in Boulevardzeitungen als „Monster“ gehandelt wurden, ist sie noch größer.

Gregors Mutter hat, nachdem die Flammen gelöscht waren, „gar nichts dazu gesagt“. Nur, daß ihr Sohn sich nicht mehr blicken lassen soll in dem kleinen Dorf im Nordwesten der Insel Rügen. Hier ist Gregor zwischen Plattenbauten und verwaisten NVA-Militärbaracken aufgewachsen, hier begann vor drei Jahren, da war er gerade zwölf, das, was Haftrichter gemeinhin als „kriminelle Karriere“ bezeichnen: wiederholter Ladendiebstahl, Körperverletzung, Waffenbesitz. „Wir sind immer zu dritt oder zu viert losgezogen, manchmal haben sie uns erwischt, dann ging's ab in die Ausnüchterungszelle, aber ein paar Tage später sind wir trotzdem wieder los.“ Und zuletzt die Brandstiftung. Da ließ ihn die Polizei nicht mehr laufen.

Dort, wo sie den schmächtigen Burschen untergebracht haben, kommt niemand zufällig vorbei. Der Weg nach Ueckermünde führt durch Geisterdörfer ohne befestigte Bahnsteige und Wälder, die denen in Jim Jarmuschs Ausbrecherkomödie „Down by law“ in nichts nachstehen. Und dann plötzlich taucht es auf, Ueckermünde, Kleinstadt am Haff, und danach nur noch Polen. Im Haus gibt es keine Griffe an den Fenstern, noch nicht. Das ehemalige Krankenstationsgebäude gleich neben dem barocken Amtsgericht liegt in den letzten Zügen des Umbaus. Am 1.April soll es als erste geschlossene, stationäre „Einrichtung der Hilfe zur Erziehung“ in Mecklenburg-Vorpommern offiziell eröffnet werden, die einzige ihrer Art in Ostdeutschland. In die können Haftrichter – nach dem Jugendgerichtsgesetz – zehn straffällige Mädchen und Jungen zwischen 14 und 18 Jahren für einen Zeitraum bis zu sechs Monaten einweisen. Ansonsten würde ihnen bis zur Verhandlung Untersuchungshaft drohen.

Der Blick aus Gregors Zimmer im ersten Stock fällt auf Betonmischer, achtlos herumliegendes Werkzeug und Planen, auf denen sich Pfützen gebildet haben. Aber selbst wenn die Bauarbeiten erledigt und auch die Griffe angeschraubt sein werden, wird er die Fenster zum Lüften nur kippen und das Haus bestenfalls unter Aufsicht eines Erziehers verlassen können. Sicherheitsglas, eine Alarmanlage und die Standleitung zur Polizei – es sind die unsichtbaren Schranken, die ihn hindern sollen, von hier abzuhauen. Gitter, hohe Mauern und Stracheldraht, alles, was Gefängnischarakter vermitteln würde, ist dagegen tabu.

Karin Schiffer, elegantes Kostüm, graumelierte Haare, sitzt, ganz Dame, im Büro der Heimleitung im Erdgeschoß und hält ihr Plädoyer: „U-Haft macht die Seele kaputt.“ Deswegen ist die Geschäftsführerin des Vereins „Trägerwerk Soziale Dienste in Mecklenburg-Vorpommern“ angetreten, das in der Bevölkerung wohl umstrittenste Modellprojekt der Schweriner Landesregierung in die Tat umzusetzen. Ein Projekt, angeschoben noch von der Großen Koalition, in letzter Minute vor ihrer Abwahl im vergangenen Herbst. Wie selbstverständlich wird es nun fortgesetzt von seiner einst schärfsten Kritikerin, der PDS. Sie stellt mit Martina Bunge die Sozial- und Jugendministerin im rot-roten Kabinett.

Jugendliche, „klein, gedemütigt, geprügelt, voller Angst“, wie sie Karin Schiffer in den Knästen von Neustrelitz und Neubrandenburg von den Haftrichtern vorgeführt wurden, „brauchen die intensive Betreuung, die Achtung und die Anerkennung von Erwachsenen“. Unwidersprochen. Egal, ob sie Dirk* heißen, sich die Haare auf zwei Millimeter runterrasieren und damit prahlen, schon mit 14 durch die nächtliche Greifswalder Innenstadt gezogen zu sein, um „Ausländer zu verdreschen“. Oder ob sie sich, wie der 15jährige Achim*, dem Verdacht ausgesetzt sehen, ein kleines Kind mißbraucht zu haben. Nur: Hat die Gesellschaft, um ihnen diese Hilfe zuteil werden zu lassen, geschlossene Heime nötig? Kann „verbindlicher Aufenthalt“ – um den weniger emotionsbesetzten Begriff zu verwenden, unter dem die Ueckermünder Einrichtung firmiert – die Probleme lösen helfen, an denen bestehende, offenere sozialtherapeutische Wohnformen zur Vermeidung von U-Haft angeblich gescheitert sind? Führt die Hierarchisierung nicht dazu, daß hier diejenigen „schweren Fälle“ konzentriert werden, die zu ihrer „Resozialisierung“ alles, aber sicher nicht ein Umfeld mit ähnlich krimineller Vergangenheit brauchen?

„Mörder nehmen wir nicht“, sagt Karin Schiffer. Doch sie weiß, sie begibt sich „auf Glatteis“. Mit einem Konzept, das Kriminologen wie Christian Pfeiffer aus Hannover, Jugendrichter wie Achim Katz aus Hamburg, Pädagogen wie Werner Freigang von der Uni Neubrandenburg und Politiker wie der ehemalige Hamburger SPD-Jugendsenator Jan Ehlers für „wenig aussichtsreich“ halten. Weil Jugendhilfe, die zugleich hilft und bestraft, in einen Rollenkonflikt gerät, der kein Vertrauen schafft. Weil geschlossene Heime eine künstliche Welt darstellen, in der sich nicht lernen läßt, die Bedingungen zu bewältigen, an denen man „draußen“ gescheitert ist. Weil Jugendliche, die gegen ihren Willen eingesperrt sind, immer entkommen.

Christian* ist schon zweimal abgehauen. Mit dem Feuerlöscher, gesteht er kleinlaut, habe er die dicken Scheiben eingeschlagen. Das war noch in Rustow, wo die Einrichtung nach ihrer Gründung im vergangenen Herbst zunächst residierte – bis das Gejohle der örtlichen Bürgerinitiative sie im Januar zum Umzug zwang. „In Ueckermünde ist das mit der Akzeptanz anders“, weiß eine Redakteurin der Lokalzeitung. „In Ueckermünde gab es schon zu DDR-Zeiten den Knast, die Psychiatrie. Ueckermünde, das war im Volksmund der Ort für die Verrückten.“

Christian hatte Gründe für seine Flucht aus Rustow. „Wir konnten da nie raus.“ Und irgendwie hat er sich und den anderen beweisen wollen, daß es doch geht. Beim ersten Mal holte ihn die Polizei ein, beim zweiten Mal kam er nach zwei Stunden freiwillig zurück. „Wo sollte ich denn sonst hin?“ Dann, auf dem „heißen Stuhl“, als alle, die Jungs, die Erzieher, die Heimleitung, um ihn herumstanden und drohten, ihn ins Gefängnis zurückzuschicken, hat er kapiert: „Ich will hier im Heim bleiben.“ Weil es hier niemandem egal ist, ob er morgens aufsteht. Sich die Zähne putzt. Am internen Schulunterricht teilnimmt, und sei es nur für eine halbe Stunde. Weil es hier ein eigenes Zimmer, Kinobesuche und Kraftsporttraining gibt und Ausflüge, zwar unter Aufsicht, aber immerhin. Und schließlich auch deswegen, weil hier die Kumpel von einst nicht einfach aufkreuzen können, um ihn „zu überreden, wieder Scheiße zu bauen“. Deswegen möchte er „hier bleiben, am liebsten noch ein paar Jahre“. Daß das eine Illusion ist, will er nicht hören. Denn entweder er landet nach der Verhandlung im Jugendknast, oder, was wahrscheinlicher ist, er bekommt eine Bewährungsstrafe. Der Effekt ist der gleiche: Aus dem Haus in Ueckermünde wird Christian in jedem Fall ausziehen müssen. Wird sich, nachdem er erst vor seinem Stiefvater abgehauen ist und anschließend, als die Diebstähle begannen, von Heim zu Heim gereicht wurde, erneut an neue Strukturen und Bezugspersonen gewöhnen müssen. „Besserung wird mit Beziehungsabbruch bestraft“, seufzt Pädagogikprofessor Freigang, „das geht nicht gut.“

Trotz aller fachlichen Warnung bleibt PDS-Sozialministerin Martina Bunge stur: „Um über die Sinnhaftigkeit des Modellprojekts urteilen zu können, muß das Projekt mindestens ein Jahr laufen. Deshalb wird sich das Kabinett im Sommer mit einem Zwischenbericht beschäftigen.“ Mit der wissenschaftlichen Begleitforschung beauftragt wurde ein Team aus Kriminologen, Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen der Universität Greifswald. „Ziel ist“, so der Kriminologe Frieder Dünkel, „zu überprüfen, inwieweit das Projekt zur Integration in die Gesellschaft beiträgt. Unterscheiden sich die dort Eingewiesenen von denen, die in offenen Heimen leben? Gelingt es der Jugendhilfe, für die jungen Leute eine Lebensplanung zu entwickeln, so daß sie eher von Haft verschont werden?“

Die Tendenz, Jugendliche hinter Gitter zu bringen, ist im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern deutlich ausgeprägter als selbst in Städten wie Hamburg: Bei gleicher Einwohnerzahl sitzen im Stadtstaat an der Elbe derzeit rund 160 Jugendliche und Heranwachsende in Strafhaft; in Mecklenburg-Vorpommern sind es doppelt so viele. Kein Jugendlicher, der nach Tagen oder Wochen Untersuchungshaft vom Haftrichter erfuhr, daß er die Wahl hat zwischen Gefängnis und Ueckermünde, hat lange überlegt.

Schüchtern blickt Christian um sich. Sein Zimmer hat er mit Fotos von seiner Mutter und seinen Cousinen geschmückt. „Alles“, sagt er leise, als sein Sozialarbeiter den Raum verlassen hat, „alles ist besser als U-Haft.“ Wo die anderen Insassen mit unscheinbaren Jungen wie ihm, der davon träumt, Koch zu werden und in seinem Bettkasten selbstverfaßte Science-fiction-Kurzgeschichten hütet, gern mal „Tannenbaum spielen“: Festhalten, Klopapier um den Körper wickeln, Feuerzeug dranhalten. Oder „Pommesbude“ spielen: Einklemmen zwischen zwei Matratzen und drübertrampeln. Knast-Initiierung läuft nach dem immer gleichen Schema ab.

Christians Tür öffnet sich einen Spalt weit. Achim* und Gregor stehen da. Sie haben gelauscht. „Ey, Koch willste werden?“ Gregor grölt. „Wieso nicht Tierpfleger? Da geht's immer um Vögel, ich mein', die meisten sagen Vö...“ Der Satz endet im Schwitzkasten.

*Namen der Jugendlichen von der Redaktion geändert