Eine Herkulesaufgabe

Gerhard Schröder muß als EU-Präsident ohne funktionierende Bürokratie auskommen  ■   Aus Bonn Daniela Weingärtner

Zwei Männer, eine Botschaft: Was uns nicht umbringt, macht uns härter, signalisiert des Außenministers entschlossener Blick aus schmalen Augen, wann immer er auf die Hindernisse angesprochen wird, die einer Einigung beim Berliner EU-Gipfel diese Woche im Wege stehen. Auch der Kanzler blickt, wenn es um die Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft geht, ernst und gefaßt in alle Kameras, läßt dann aber ein verheißungsvolles Lächeln durchscheinen, das zu sagen scheint: Ich habe noch ein As im Ärmel.

Vergessen die Beschwichtigungsmanöver, mit denen Fischer und Schröder Mitte Januar das Europaparlament in Straßburg bremsen wollten, als die Abgeordneten mobil machten für den Mißtrauensantrag gegen die Kommisson. Damals warnten beide, ein Sturz der Kommission könne das Arbeitspensum im Halbjahr unter deutscher Führung, das Reformwerk Agenda 2000, gefährden. Heute wird die Tatsache, daß zum ersten Mal in der Geschichte der EU eine Kommission geschlossen zurückgetreten ist, heruntergespielt.

Nach dem Außenministertreffen vorvergangenes Wochenende in Rheinhardshausen bei Wiesbaden hatten Fachleute aus Fischers Ressort von einer neuen Kompromißformel bei den Agrarfinanzen geschwärmt, die bis zum Berliner Gipfel „nur noch“ von der EU-Kommission in eine neue Vorlage gegossen werden müsse. 30 Stunden später trat die Kommission zurück und erklärte kurz darauf, sie werde bis zu ihrer Ablösung nur noch die nötigsten laufenden Geschäfte abwickeln. Was wird nun aus mehrheitsfähigen Ideen, die sich vielleicht bei Schröders Rundreise oder beim Außenminister-Konklave am Wochenende in Brüssel ergeben haben und „nur noch“ von der Kommission formuliert werden müssen, damit sie in Berlin abgestimmt werden können?

Für Aktivitäten in letzter Minute bedeute der Rücktritt der Kommission kein Handicap, versichern die Agenda-Experten aus dem Außenamt tapfer. Neue Kompromißentwürfe gehörten schließlich zu den laufenden Geschäften. Man kann sich förmlich vorstellen, wie die geschaßten Brüsseler Kommissare frohgemut zu ihren Schreibtischen eilen, um rasch noch den Berliner Gipfel mit mehrheitsfähigen Kompromißvorlagen zu versorgen, bevor sie das Familienfoto in die Umzugskiste packen. Die Realtität sieht anders aus: Bis zum Ende ihrer Präsidentschaft müs- sen die Deutschen ohne funktionierende Brüsseler Bürokratie zu Rande kommen. Selbst wenn es gelingt, kurz nach dem Berliner Gipfel eine unbelastete Kommission zu installieren, werden viele Neulinge darunter sein, die sich erst in ihre Themenbereiche einarbeiten müssen. Auch was das Procedere der Neubenennung angeht, steht die deutsche Präsidentschaft vor einer nie dagewesenen Übergangssituation.

Zum 1. Januar 2000 wäre die Amtszeit der nun fahnenflüchtigten Kommissare ohnehin abgelaufen. Für die bis dahin verbleibenden Monate wird sich aber keine glaubwürdige Alternative finden lassen. Romano Prodi hat bereits mehrfach betont, er stehe nur für volle fünf Jahre zur Verfügung. Unklar ist auch, ob die neue Kommission bereits nach den Regeln des Amsterdamer Vertrages bestellt werden soll, der zum 1. Juni in Kraft tritt und dem Parlament mehr Mitsprache bei der Besetzung der Kommission einräumt. Zum 13. Juni wiederum wird das Europaparlament neu gewählt. Die Glaubwürdigkeit der neuen Kommission wäre von Anfang an eingeschränkt, wenn sie noch vom alten Parlament bestätigt worden wäre.

Auch ohne diese zusätzlichen Probleme sind die Aufgaben, die Schröder und Fischer zu Beginn des Jahres so optimistisch anpackten, schon herkulisch genug: Eine Agrar- und Finanzreform, die Europa fit macht für die Erweiterung und gleichzeitig mehr Beitragsgerechtigkeit bringt, wollten die Deutschen erreichen. Im Klartext bedeutete das, vor allem die deutschen EU-Beiträge zu senken. EU-Kenner warnten schon damals, daß eine Ratspräsidentschaft nur erfolgreich sein könne, wenn sie nationale Eigeninteressen zurückstelle.

Diese Erfahrung hat inzwischen auch der Bundeskanzler gemacht. Längst ist er von starken Sprüchen in der Nettozahler-Diskussion abgerückt. Ein Erfolg sei, wenn die deutsche Beitragskurve in der nächsten Finanzperiode leicht nach unten zeige – so lautet seit dem Sondergipfel auf dem Petersberg die neue Sprachregelung. Aber die neue deutsche Zurückhaltung hat bislang keinen Durchbruch gebracht. Die Franzosen lehnen den Agrarkompromiß ab, die Spanier beharren auf ihrem Sonderfonds, die Briten wollen vom Beitragsrabatt nicht abrükken. In dieser verfahrenen Situation könnte – nach der verqueren Logik, die auf Gipfeln regiert – Santers Rücktritt das As sein, das Schröder aus dem Ärmel ziehen will: Da die Deutschen keinen eigenen Nachfolgekandidaten ins Gespräch gebracht haben, gelten sie nun wieder als „ehrliche Makler“, die überzeugend fordern können, daß sich in Finanzfragen die Partner kompromißbereit zeigen.