„Zerstoppt-fahrige wisch-striche“

■ Kürzlich wurde der brandneu eingerichtete „Preis der Oldenburgischen Kulturlandschaft“ an den Komponisten Hans-Joachim Hespos verliehen. Auszüge aus der Laudatio der taz-Klassikexpertin Ute Schalz-Laurenze

Der „Preis der Oldenburgischen Kulturlandschaft“ wurde dem Delmenhorster Komponisten Hans Joachim Hespos verliehen, einem Künstler, der nicht nur an seinem internationalen Renomee feilt, sondern sich mit vielen Aktivitäten in der Region verankert hat: seit dreißig Jahren „Neue Musik in Delmenhorst“ an jedem 11.11. – „damit niemand sagen kann, er habe den Termin nicht gewußt“ so der Komponist – und die „Kulturreibe“, eine lose Projekt- und Konzertreihe im Hotel des Gastronomen Werner Scheitza.

Seit 1964, seit sich der damals 26jährige Grundschullehrer mit dem knapp fünfminütigen „für cello solo“ mit Wucht und folgenschwerer Nachdrücklichkeit in die deutsche Musikszene eingebracht hatte, entfaltete sich sein Werk in „geradezu permanenter Explosion“ (Hans Klaus Metzger). Er schrieb Klänge, „bis sie gleichsam zerspringen“ (Dieter Schnebel). Über und in Hespos Noten stehen Ausdrucksanweisungen, wie es sie noch nie gab. „Wie aus dem atmenden Stilleraum sich drückend“, „aus der Erstarrung sich nur schwer lösend“, „von zerstörter perforiertheit wie verwest, „von zisch-ribbelnder Unruhe“, „ereignisse von unterschwelliger fiebrigkeit“, „immer stärker aufladen mit exzessiv-delirialer Verzückung“.

(...) Das 1998 entstandene vierminütige Orchesterstück „pappilon“ beginnt mit „leisen berstungen“ und „zerstoppt fahrigen wisch-strichen“.

Schon 1984 hat der Hannoveraner Musikwissenschaftler Ludolf Baucke ein Verzeichnis dieser Ausdrucksanweisungen angelegt und bei über 2500 festgestellt – inzwischen werden es über 6000 sein –, daß sich keine einzige wiederholt. Somit beantwortet Hespos eine zentrale Frage der Expressionismus-Debatte in den dreißiger Jahren, ob denn Ausdruck ohne Konvention überhaupt möglich sei, eindeutig und geradezu emphatisch mit „Ja“. Der Musikschriftsteller Hans Klaus Metzger nannte diese geradezu wahnwitzige Suche nach der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit bestimmter Zustände, „den heroischen Versuch, Musik streng aus Subjektivität zu konstituieren und durchzubilden“.

(...)Für die Umsetzung derartiger Ausdrucksbezeichnungen bedarf es mehr als Blas- und Griff-, als Strich- und Bogentechniken. Es erfordert im Augenblick des Spielens eine totale Identifikation, ist Existenz. Die kreative Verantwortung des Interpreten wird so außerordentlich gefordert, gleichzeitig werden ihm große Freiräume eingeräumt. Das verweist auf zwei Aspekte des Hespos'schen Schaffens: Die trotz eines traditionellen Werkbegriffes erfolgte Orientierung am Jazz und sein über die Komposition selbst erfolgter Versuch, einem erschlafften und verbeamteten Musikbetrieb wieder neue Atmung zuzuführen.

(...) „für cello solo“ war die Reaktion auf Kammermusikwerke von Anton Webern und Arnold Schönberg, deren „Komponieren ohne Netz“ Hespos existenziell getroffen hatte. Ich erinnere hier an das, was die Klangvorstellungen von Edgar Varèse nach der Musikdefinition des französischen Physikers Hoèné Wronsky waren: Musik sei die Verkörperung der in den Klängen selbst gelegenen Intelligenz“. Und der französische Philosoph Roland Barthes hat in einer wunderbaren Arbeit über Robert Schumanns „Kreisleriana“ dessen Ausdrucksanweisungen in Verbindung mit der jeweiligen musikalischen Struktur als Bewegungen des Körpers erkannt. „Was ich höre, sind Schläge“, sagte Barthes, „oder besser: diesen Körper, der schlägt“.

Es gibt aber noch eine andere Komponente, die Hespos in eine Kontinuität der Musikgeschichte verweist: seine Auffassung von der Bedeutung der Musikinstrumente. Hespos bezieht sich auf eine Definition von Curt Sachs: „Die Geschichte der Musikinstrumente reicht von der Altsteinzeit bis in unsere Weltepoche hinein; sie wird abgebrochen, wo das Musikinstrument aus der Weite allverbundener Glaubens- und Lebensbeziehun-gen in die Enge rein künstlerischer Zwecke schrumpft“.

(...) Diesem erkennbaren Widerspruch setzt Hespos sich mit der Behandlung und auch mit Erfindung von Instrumenten aus. 1986 hat Hespos in Zusammenarbeit mit dem Schlagzeuger Ulrik Spies ein 200 Kilo schweres, 2 mal 3 Meter großes Stahlblech entwickelt, das an verschiedenene Stellen und in verschiedenen Formen und Größen eingeritzt und gebogen ist: Die unzähligen Felder mit jeweils anderen Grundtönen bieten im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte rhythmische und klangliche Möglichkeiten. Er schreibt für Instrumente, die „wirken sollen, nicht als Spender künstlichen Genusses, sondern als Rufer lebenserhaltender und als Banner lebenszerstörender Kräfte“ (Curt Sachs). Und Hespos: „Keines unserer Musikinstrumente ist harmlos!“

In seinen letzten Werken wendet er sich mit dieser Auffassung wieder der menschlichen Stimme zu, dem allerersten Instrument: „Die menschliche Stimme ist die Grundlage der Musik“, hatte Richard Wagner gesagt, und Hespos setzt am italienischen Bel Canto an, jener fast ausgestorbenen italienischen Gesangskunst, deren Virtuosität ausschließlich dazu da war, einen extremen Ausdruck sehr genau zu zeigen, den „verborgenen Sinn“ offenzulegen, wie Giacchino Rossini sagte. Manche Ausdrucksbezeichnungen aus Hespos' neuesten Partituren lesen sich wie Lehranweisungen für das Bel Canto: „groß aufstrahlen“, „von verwirrender Elastik“, „irrsinnig abdrehendes hochdramatisches Gemisch“, „immer dunkler färben“, „geschmeidig leuchtend“. Wem fällt bei diesen Bezeichnungen nicht die größte Bel Canto-Sängerin dieses Jahrhunderts ein, Maria Callas? Im Unterschied allerdings zu den großen Bel Canto-Komponisten des 18. und des 19. Jahrhunderts geht es bei Hespos in der ihm eigenen ästhetischen Logik um eine Totalität: Seine Stimmen sind „stimmfiguren“, „raumfiguren“ oder „stimmenkörper“.

(...) Gerne bezieht er sich auf Künstler anderer Gattungen, so auf Günter Eich (“Wir wissen, daß die Macht daran interessiert ist, daß Kunst die Grenzen der Harmlosigkeit nicht überschreite“) oder Theodor W. Adorno (“Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind“). Oder auch auf Oskar Schlemmer, dessen „Triadisches Ballett“ Hespos 1976 vertonte (“Ein Kunstwerk ist eine Verkündigung der Freiheit. Für die Menschen hat es nie etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit“).

Viel wäre noch zu sagen über die Bühnenwerke von Hespos, in denen Licht, Material, Raum, Bewegung, meist semantiklose Sprache zu musikalischen Parametern werden, über die Ausweitung rein klingender Elemente in szenische Gesten, über die musikalische Umsetzung psychologischer Phänomene beim Musikmachen – im „ohrenatmer“ beispielsweise sind vier MusikerInnen aneinander gebunden und können ständig nicht spielen, was in der ausgeschriebenen Partitur steht – ,über die gleichwertige Wechselbeziehung von Ton und Tat, über die Tat als Ton, über den Ton als Tat. Wieder Hespos: „Komponieren heute – gar keine Frage. Inmitten einer Welt, in der die einen absterben vor Überfluß, die anderen vor Hunger krepieren und der übrige Rest voller Hohnverachtung ausgerottet wird, inmitten einer Welt des Todes sind Signale zu rufen, Signale für das Wunder des Lebendigen. Komponieren, das ist wie Sistrum, jenes altägyptische Rasselidiophon, dessen Schüttelbewegungen den Menschen vor Augen und Ohren führt, daß die todbedrohte Welt ständig aus ihrer Erstarrung aufgerüttelt werden muß.“

Damit möchte ich schließen und Hans Joachim Hespos herzlich zu dem Preis und seinem 61.Geburtstag gratulieren und ihm und uns noch viele „verschiedenartig divergierend weit geatmete Gesänge“ wünschen, die er nun auch innerhalb einer Professur an der Musikhochschule in Rostock an junge Leute weitergeben kann. (...)