Doppelt entblößt, doppelt verborgen

Wie funktioniert das Unbewußte auf französisch? Georges-Arthur Goldschmidt untersucht „Freud und die deutsche Sprache“. Und wie jeder Autor, der theoretisch wird, redet er vor allem von sich selbst  ■ Von Hans-Ulrich Treichel

Wie wäre es um Sigmund Freuds psychoanalytische Theoriebildung und vielleicht auch unsere Psyche bestellt, wenn die deutsche Sprache nicht über die Vorsilben „un“ oder „ver“ verfügte? Gäbe es dann kein Unbewußtes und keine Verdrängung, keine Fehlleistungen wie Vergessen, Versprechen, Verschreiben? Oder gäbe es dies alles gleichwohl – nur unter einem anderen Namen? Doch wäre es dann noch das, was es ist? Diese auf den ersten Blick naive und auf den zweiten scholastisch anmutende Frage stellt sich Georges-Arthur Goldschmidt in seinem Buch über „Freud und die deutsche Sprache“. Doch ist Goldschmidt weder naiv, noch will er den alten Streit darüber noch einmal aufrühren, ob jedes Ding notwendig seinen ihm eigenen Namen hat oder nur zufällig beziehungsweise per Übereinkunft der Sprachgemeinschaft so heißt, wie es heißt.

Wie moralisch ist das Bewußtsein?

Die scheinbar bloß spielerische Frage, wie nenne ich das Unbewußte, wenn ich über kein „un“ verfüge, wird für denjenigen zum ernsthaften Problem, der Freud aus dem Deutschen ins Französische übersetzt. Die französische Sprachgemeinschaft hat sich hier – mit Ausnahmen, zum Beispiel Lacan, der „das Unbewußte“ mit „l'insu“ (eigentlich: das Ungewußte) übersetzt – für „l'inconscient“ entschieden. Das führt insofern zu einem Bedeutungswandel, als „l'inconscient“ kein Neutrum ist, sondern maskulin. Außerdem ist die jeweilige Etymologie und das jeweilige Wortfeld ein anderes, so daß es zu weiteren Bedeutungsverschiebungen kommt. Wer „l'inconscient“ sagt, der denkt beispielsweise auch an „la conscience“, das Gewissen. Denn im Französischen ist, anders als im Deutschen, „Gewissen“ und „Bewußtsein“ dasselbe. Goldschmidt folgert hieraus: „Die Sprache hat hier offensichtlich für Freud gearbeitet und das Bewußtsein von jeder moralischen Konnotation freigehalten.“

Wer sich für deutsch-französische Übersetzungsprobleme und die Terminologie der Psychoanalyse aus vergleichender Perspektive interessiert, der wird bei Goldschmidt auf seine Kosten kommen und einiges lernen können. Nicht nur über das Unbewußte und die Verdrängung, sondern auch über „Wiederholung“ und „Trieb“, über „Wahn“ und „Seele“ und anderes mehr. Was aber folgt darüber hinaus aus Goldschmidts mikroskopischer Wortanalyse, sieht man vom Übersetzungstechnischen und Sprachgeschichtlichen einmal ab? Vor allem die Einsicht, daß Übersetzung kein bloßes Verlustgeschäft ist. Der französische Freud ist kein armer Verwandter des deutschen. Und auch keiner, der sozusagen mit falschen Papieren unter die Leute geht.

Im Gegenteil: Für Goldschmidt scheint es vielmehr so, daß das Deutsche und das Französische einander gewissermaßen begegnen wie Analytiker und Analysand, freilich mit jeweils wechselnden Rollen: „Und wenn der Sinn darin bestünde, in zwei Sprachen zu sein, und wenn die ganze Psychoanalyse darin bestünde, das je andere in der Sprache sichtbar zu machen? Wenn eine Sprache die Analyse der anderen wäre? Das Deutsche analysiert, erhellt das Verborgene im Französischen (und umgekehrt); denn das alles ist auch im Französischen. Eine Sprache ist die Zuflucht der anderen, ihre Sehnsucht nach dem, was sie selbst nicht ausdrücken kann.“

Traumata und Obsessionen

Hier nun tut Goldschmidt etwas, was Schriftsteller sehr oft tun, wenn sie theoretisch werden: Er redet von sich. Schließlich hat der als Kind jüdischer Eltern nach Frankreich emigrierte und seither in Paris lebende Autor sein bisheriges und stark autobiographisch geprägtes Werk in zwei Sprachen verfaßt. Was im Falle Goldschmidt auch heißt: Er hat sich den Traumata seines Lebens, seinen Ängsten und Obsessionen in zwei Sprachen überlassen. Denn Goldschmidt erzählt nicht nur von der Kindheit im heimischen Garten in Hamburg, von der Emigration nach Frankreich, dem Versteck im Heim und der Angst vor Entdeckung. Er erzählt zugleich, wie dies alles sich verknüpft mit körperlichen Züchtigungen und seelischen Demütigungen durch Erzieher und Kameraden, mit der Initiation in eine sadomasochistisch geprägte Sexualität im Knabeninternat und der scham- und schuldhaft erlebten lustvollen Fixierung auf die Übel, die ihm angetan werden.

Ganz offensichtlich hat der Autor selbst die Erfahrung gemacht, die er hier der Psychoanalyse zuspricht: nämlich „in zwei Sprachen zu sein“; und möglicherweise ließe sich das eine seiner Bücher, beispielsweise die zuerst auf französisch erschienene Erzählung „Der unterbrochene Wald“ (deutsche Übersetzung 1992 von Peter Handke) auch als Analyse des anderen, beispielsweise der 1991 auf deutsch geschriebenen „Absonderung“, lesen – und umgekehrt. Literarische Texte, auch diejenigen Goldschmidts, können durchaus im aktiven Sinne analysefähig sein. Genauso wie analytische Texte durchaus Dokument einer Symptombildung sein können. Und letzteres ist wohl, neben dem sprachanalytischen und sprachgeschichtlichen Ertrag, das deutlichste Merkmal von Goldschmidts „Als Freud das Meer sah“.

Goldschmidt analysiert nicht nur, er agiert und projiziert auch. Beispielsweise dort, wo er beinahe zwanghaft nicht nur die Sprache Freuds, sondern die deutsche Sprache insgesamt auf eine dominierende metaphorische Dimension festlegt: die des Meeres. „Es ist, als berge die deutsche Sprache die ursprüngiche Brandung der See, bewahre ihre Wiegen, Ebbe und Flut.“ Überhaupt neigt Goldschmidt zu verallgemeinernden Aussagen, die man nur als höchst gewagt bezeichnen kann: „Im Deutschen geht alles vom Körper aus“, heißt es dort einmal – oder: „Das Deutsche beschwört ununterbrochen die Urszene herauf (...)“ Und „Das Deutsche spricht unentwegt von der Kindheit.“ Dies alles trifft wohl eher auf den Autor selbst und seine innersten Erzählintentionen zu. Das Ich des Erzählers ist besessen vom Körper – seinen Qualen wie seinen Gelüsten und der ganz speziellen Vermischung von beidem. Und Goldschmidts erzählerische Produktivität verdankt sich gewiß nicht unerheblich der beständigen Erinnerung an die ganz persönlichen „Urszenen“ seiner Kindheit und Jugend. „Sprache ist Entblößung“, schreibt Goldschmidt. Und jede Entblößung ist immer auch ein Verbergen. Wer aber das Privileg hat oder dazu verurteilt ist, in zwei Sprachen zu schreiben, der erfährt sich vor sich selbst und der Welt doppelt entblößt und doppelt verborgen. Auch das ist aus Goldschmidts vergleichender Sprachanalyse zu lernen.

Georges-Arthur Goldschmidt: „Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache“. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Ammann Verlag, Zürich 1999, 192 Seiten, 38 DM