Der Sieg des Boxers über das Buch

■ Ein Schriftsteller verfällt der Sehnsucht nach dem Tode, und den anderen geht es auch nicht besonders gut: Karen Duve hat mit ihrem „Regenroman“ ein schönes Endzeitepos geschrieben

Es schien schon Zeit, sich zu beschweren: Ein Jahrhundert geht zu Ende, ja ein Jahrtausend gar, und in der deutschen Literatur will und will keine Endzeitstimmung aufkommen. Froher Optimismus und zufriedene Selbstbetrachtung überall. Nirgends gehen Welten unter, nicht einmal kleine persönliche Schriftstellerwelten, und selbst Botho Strauß wirkt in letzter Zeit recht ausgeglichen.

Doch Karen Duve ist jetzt beherzt in die Lücke gesprungen und hat mit ihrem ersten Roman ein Sumpfepos für unser ganz persönliches Jahrhundertende geschrieben. Hier versinkt mehr als ein Schriftstellerleben im tiefen Morast eines ostdeutschen Moores. Es versinken Autos und Turnschuhe, Verbrecher und ihre Opfer, Boxer und Zuhälter, Häuser, Schnecken und Salamander. Eine ganze verrottete Welt versinkt im Moor, und Karen Duve beschreibt diesen Untergangszauber voller Wollust, Hingabe und höchst romantischer Sympathie mit dem Tode.

Leon Ulbricht ist Schriftsteller. Er schreibt Geschichten über enttäuschte Männer, die ihm ähneln, und Gedichte, die sich nicht reimen. Seine Bücher kauft niemand. Er ist arm, erfolglos und frustriert. Bis in dieses vergeistigte Schriftstellerdasein eines Tages geballte Diesseitigkeit eintritt, in Form des Boxmeisters und Zuhälters Benno Pfitzner. Pfitzner bietet Ulbricht hunderttausend Mark für das Verfassen seiner Biographie. Gut, sagt der Dichter, lacht und glaubt, dem feindlichen Leben damit ein für allemal auf lächerlich einfache Weise ein Schnippchen geschlagen zu haben. Doch er irrt. Der wahre Abstieg des Leon Ulbricht hat damit erst richtig begonnen.

In schöner Thomas-Mann-Manier wird hier der alte Konflikt zwischen „Geist“ und „Leben“ souverän und ironisch durchgespielt. Der Kämpfer Pfitzner wünscht sich sein Leben als Heldenepos beschrieben, Ulbricht psychologisiert allerlei Tragik und blasse Gedanken hinein. Doch dafür hat der Boxer nicht gezahlt. Er redigiert jede Schwäche aus seinem Leben wieder heraus, während der Dichter allen Ernstes glaubt, trotz der Hunderttausend-Mark-Zahlung auf der Autonomie der Kunst bestehen zu können.

Das kann er nicht. Die Kunst, der Geist, ist machtlos wie eh und je. Der Kämpfer feiert ein rauschendes Blutfest, und der Dichter verachtet sich für seine Schwäche, seine Wehrlosigkeit und Nutzlosigkeit, wenn es darum geht, einen Nagel in die Wand zu schlagen, ein Gurkenglas zu öffnen oder seine Frau vor einer Vergewaltigung zu schützen. Leon ist schwach. Leon ist einsam. Leon ist vom langen Lebensdienst ermüdet. Und Leon ist ein Romantiker, der vom Tode unerbittlich angezogen wird.

Der Roman beginnt mit einem Leichenfund, der Leon fasziniert. Und damit nimmt die Unglücksgeschichte als Verfallsgeschichte ihren Lauf. Leon ist dem Tode geweiht, nachdem er zum ersten Mal das Moor gesehen hat, dessen Anblick ihn mit „hilfloser Sehnsucht“ erfüllt. Er kauft ein altes, morsches Haus in eben diesem Moor, um sich hier ganz dem Schreiben und der Liebe zu seiner Frau zu widmen. Ein Idyll, denkt er, doch in Wirklichkeit ist es sein Grab.

Denn das Schreiben funktioniert nicht mehr, nachdem er die Übermacht des Boxers über das Buch anerkennen mußte. Und wenn das Schreiben angesichts der Wirklichkeit des Lebens nicht mehr funktioniert, dann funktioniert für den Schreiber das ganze Leben nicht mehr. Und auch die Liebe nicht. Anstatt zu seiner Frau faßt Leon eine höchst unvernünftige Neigung zu einer fetten, perversen Verführerin, einer lächerlich verzerrten Urmuttergestalt, mit der er wollüstige, schleimige Urvereinigungen reiner Körperlichkeit erfährt. Vereinigungen, die alle nur ein Vorspiel sind auf die eine große, finale Vereinigung, dem „Zurücksinken in den Schoß seiner wahren Mutter“.

Igitt, ja, das alles ist ein wenig unappetitlich und hat mit all dieser Erdmutterrückkehrseligkeit etwas von Nazi-Blut-und-Boden-Romantik. Nur daß Karen Duve alle „spottschlechte Romantik“ fein säuberlich durch Ekel, rücksichtslose Einblicke, Zynismus und Verzweiflung wieder aus ihrer Geschichte herausironisiert, ohne daß dadurch der Erzählfluß leiden würde. Duve erzählt mit einer solch unausweichlichen Konsequenz, daß wir den entstehenden Sprachsog ihres Werkes, wenn das nicht so albern naheliegen würde, mit der Sogkraft des Moores vergleichen würden. So sagen wir nur: Das ist sehr gut erzählt.

Die Menschen in Karen Duves Regenroman leiden alle unter einer Einsamkeit, die nicht zu überwinden ist, einer Gier nach Leben und nach dem anderen Körper, die nicht zu stillen ist, einer abwesenden Zufriedenheit und Harmonie, die nicht zu finden ist. Und all das wird unaufhörlich umspült von einem nie endenden Regen, der die Grenzen zwischen Himmel und Erde langsam aufzulösen scheint. Volker Weidermann

Karen Duve: „Regenroman“. Eichborn, Berlin 1999, 304 Seiten, 36 DM