Müde dieser alten Welt

Durs Grünbein versucht, sich in lyrischem Breitwandformat selbst zu überbieten. Mit „Nach den Satiren“ ist er im Posthistoire gelandet, wo nur noch Reprisen blühen  ■ Von Michael Braun

Er war ein Lästermaul, ein professioneller Ketzer, ein Meister in der Kunst der üblen Nachrede: Der römische Dichter Juvenal profilierte sich in der Regierungszeit der Kaiser Trajan und Hadrian als ein Berserker der Satire, der gegen die Dekadenz der ihm verhaßten Gesellschaft vom Leder zog. In seinen „Saturae“, fünf Büchern mit 16 Satiren in Hexametern, einem polemisch-poetischen Opus von insgesamt 4.000 Versen, hat der Satiriker und Frauenfeind seiner Zeit noch einmal die Leviten gelesen, bis sein Tod um 130 n. Chr. den Schlußpunkt unter die Geschichte der lateinischen Satire setzte.

2.000 Jahre nach Juvenal reanimiert nun ein poetischer Nachgeborener die kulturkritischen Intentionen der römischen Lästerzunge, um seine eigene Gegenwart zu begreifen. Der seit dem unseligen Wort vom „Götterliebling“ (Gustav Seibt) viel bewunderte, aber auch massiv gescholtene Durs Grünbein reist in die römische Antike zurück, um sich bei Juvenal und seinen Zeitgenossen Rat und Aufschluß zu holen für das Verständnis seiner eigenen Epoche. Die Zeit für Satiren, das macht der Titel von Grünbeins neuem Gedichtband dabei unmißverständlich klar, ist abgelaufen.

Melancholisches Spätzeitgemurmel

Die rhetorischen Aggressionstechniken Juvenals mögen noch von den Henscheids und Gernhardts adoptiert werden – Grünbein selbst wählt eine andere Perspektive: Es ist die Weltaneignungsperspektive des melancholischen Flaneurs, der beim Blick auf die Polis der Jetztzeit von spätzeitlichen Stimmungen und einem dunklen Finalitätsbewußtsein erfaßt wird. „Nach den Satiren“, so notiert der Autor in den Anmerkungen, „das war, wenn alles gesagt und durchgekaut war, der Heimweg, der Katzenjammer, die Zeit der Gedankenspiele und der Verdauung...“ Das klingt nach forciertem Spätzeit-Gemurmel, nach stoischer Entrückheit und nach „Sich Abfinden und auf Wasser sehn“ (Gottfried Benn). Es scheint, als verorte sich Grünbein selbst im berüchtigten „Posthistoire“ (Arnold Gehlen), in einem historischen Stillstand, wo nur noch die Reprisen blühen, aber keine neuen aufregenden Gedichte mehr gedeihen.

Seit dem aufsehenerregenden Band „Falten und Fallen“ (1994), in dem sich der Autor in naturgeschichtlichen und anthropologischen Tiefbohrungen an der Conditio humana versuchte, war man in der kleinen Lyrikgemeinde gespannt auf den Fortgang des Grünbeinschen Werkes. Würde der Autor seine neurologischen Erkundungsfahrten zum „Mensch ohne Großhirn“, seine „biologischen Walzer“ und seine sarkastischen Sektionen des menschlichen Körpers fortsetzen? Nun hat er tatsächlich versucht, sich selbst zu überbieten, und seine Expeditionen im „Niemandsland zwischen Medizin und Poetik“ ins lyrische Breitwandformat übertragen. 230 Seiten ist sein neuer Gedichtband stark, der auf umfangreiche lyrische Zyklen fundiert ist und in vier großen Kapiteln 2.000 Jahre Menschheitsgeschichte umfaßt – von der römischen Kaiserzeit über das Paris Baudelaires und Apollinaires bis hin zum Umbruch des neuen Hauptstadt-Berlin.

Eröffnet wird die poetische Zeit „nach den Satiren“ durch das bei Grünbein obligate Memento mori: Im Zyklus „In der Provinz“ werden Tierkadaver besichtigt. Danach beginnt die Reise in altrömische Gefilde, in die Zynismen, Immoralitäten, Misanthropien und Überdrußgefühle einer unserer Gegenwart geistesverwandten Epoche. In sein lyrisches Porträt des Kaisers Tiberius, eins der zahlreichen Rollengedichte des Bandes, hat Grünbein jenen Daseinsekel eingezeichnet, der als Lebensgefühl fast leitmotivisch in vielen Reise- und Städtebildern, Genreszenen und Personenporträts seines Bandes wiederkehrt. Tiberius erscheint als „Misanthrop auf Capri“, der all der Barbarei in Rom müde geworden ist und sich auf eine Insel zurückzieht: „Ich aber zieh mich zurück, trauernd. Das Schlachten widert mich an.“

Großstadtpoeme mit Reflexionserschöpfung

Dieser Lebensekel maskiert sich im Fortgang des Gedichtbandes mal als Daseinsüberdruß, mal als Stoizismus, dann wieder, wenn sich Grünbein der Gegenwart nähert, als Ennui des modernen Flaneurs, der mit kaltem Blick die Großstadt durchstreift. „Ganz zuletzt bist du müd dieser Alten Welt“, wird im titelgebenden Kapitel „Nach den Satiren“ der Dichter Guillaume Apollinaire zitiert – und von diesem Gefühl der Daseinsmüdigkeit sind fast alle Gedichte des Bandes infiziert. Wo in „Falten und Fallen“ noch ein lyrisches Subjekt zu erkennen war, das von einem immensen Erkenntnis- und Wissenshunger durch die Metropolen getrieben wurde, so registrieren wir in den neuen Großstadtpoemen Durs Grünbeins eine große Reflexionserschöpfung. Dabei liegt in nicht wenigen der Gedichte die scharfsinnige poetische Reflexion mit der höheren kulturkritischen Banalität im energischen Widerstreit. Zeilen wie: „Menschen ändern sich, Städte, doch nicht am Nabel der Leberfleck“ oder „Eine Bar / Bringt sowenig Klarheit wie die Erlöserkirche / in den Dörfern Erlösung“ verlangen in ihrer unfreiwilligen Komik nach dem rettenden Eingriff eines Lektors. Im großen Zyklus „Nach den Satiren“, der in vier Anläufen ein Pandämonium der Großstadt und der menschlichen Existenz entfalten will, wirkt vieles bloß illustrativ, wie rhetorischer Schmuck, den der Autor zur Ausfüllung seines lyrischen Großformats benötigt. Wieviel aufregender, fesselnder und poetisch konzentrierter wirkt da doch der Zyklus „Variation auf kein Thema“ aus dem Band „Falten und Fallen“!

Wer nach all den Mängelrügen nun ein ultimatives Donnerwort gegen den „Götterliebling“ fordert, muß enttäuscht werden. Bei allen Leerstellen und flachen Textstrecken hat ein Grünbein-Buch immer noch genug Substanz, um das Gros der deutschen Gegenwartslyrik glänzend zu bestehen. Besonders in der ersten Abteilung des Bandes, in den Maskenspielen der „Historien“, gelingt Grünbein eine auch formal überzeugende Engführung von Antike und Gegenwart. Der moribunde Zustand des Menschengeschlechts, der Verlust jeglicher Moralität – nirgendwo in der Lyrik der Gegenwart ist das sarkastischer geschildert als in Grünbeins „Bericht von der Ermordung des Heliogabal durch seine Leibgarde“.

Durs Grünbein: „Nach den Satiren“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 230 S., 38 DM