„Für die wird‘s ganz eng“

■  Gegen die Agenda 2000 der EU protestierten gestern 4.000 Bauern. Ohne die gewohnten Subventionen fürchten viele um ihre Existenz. Die bislang größte Trecker-Demo in der Hauptstadt

Heute bleibt der Sommerroggen ungesät, heute geht Karsten Fischer (56) demonstrieren. Das hat er noch nie gemacht. „Hätte dringend was zu tun auf dem Acker“, sagt er mürrisch. Aber das ist ein wichtiger Tag, der Bauernverband hat zur Großdemonstration mit etwa 4.000 Landwirten aus ganz Deutschland nach Berlin gerufen: „Da muß man sich solidarisieren“.

Auch wenn seine Tochter Heike (30), die Inhaberin des Hofes in Rehbrücke bei Potsdam, ihn gern auf dem Feld haben wollte, er ist zur Demo gefahren.

Am Hahneberg, nahe dem ehemaligen Grenzübergang Staaken, wartet er um 7 Uhr in seinem roten Mossey-Ferguson-Traktor (125 PS, Preis 90.000 Mark). Hier ist einer von vier Sammelpunkten für gut 400 Traktoren und Schlepper, die aus Protest gegen die heute von den EU-Staats- und -Regierungschefs diskutierte Reform „Agenda 2000“ durch die Hauptstadt brummen. Es ist die größte Bauerndemo, die Berlin je erlebt hat.

Manche befürchten offenbar Schlimmes. Die Traktoren werden vom Bundesgrenzschutz gefilzt, 155 „als gefährlich eingestufte Gegenstände“ werden nach Polizeiangaben vorübergehend eingezogen: Werkzeuge, etwa riesige Schraubenschlüssel, Größe 50 bis 54. Anhänger, gefüllt mit Jauche, müssen stehenbleiben.

„Die deutschen Bauern sind friedlich“, betont Fischer, als sich der Traktor, bei jeder Bodenwelle heftig schaukelnd, in Richtung Olympiastadion in Bewegung setzt. Im Gegensatz zu den französischen Bauern, die auch mal ein paar Autos in Brand stecken, „reden wir nur viel“. Das bringe weniger Aufmerksamkeit, auch wenn es „humanistisch positiv ist“.

Dabei hat der Familienbetrieb, den er 1991 gegründet hat, viel zu verlieren. Fischer baut mit Tochter und Schwiegersohn Roggen und Weizen an, das reichte aber nicht zum Leben, wäre da nicht die Pferdezucht und -pension, die die Familie auf dem Ravensberg-Hof betreibt: 85 Pferde. Schon zu Ost-Zeiten hatten die Fischers Pferde: Heike war in den achtziger Jahren viermal DDR-Meisterin im Dressurreiten.

Auch aus dieser Tradition heraus haben die Fischers acht Lehrlinge („meistens Mädchen“), die in der Pferdezucht und -führung ausgebildet werden. Das sei nun in Gefahr. Wenn der Roggenpreis und die Beihilfen heruntergesetzt werden, wäre es billiger, das Getreide „auf den Acker zu kippen“, schimpft Fischer. Die Produktion einer Tonne kostet ihn 550 Mark, für 219 muß er verkaufen, nur durch Beihilfen wird die Differenz gedeckt. Mit den geplanten geringeren Subventionen bliebe nichts anderes, als weniger Lehrlinge einzustellen, und das heißt: mehr Arbeit, kein Urlaub mehr. „Wir sterben nicht, wir müssen reduzieren.“

Am Olympiastadion warten schon Dutzende Busse mit Bauern aus ganz Deutschland. Die westdeutschen Landwirte haben in der Regel weniger Boden als ihre ostdeutschen Kollegen. Sie bestaunen deren riesige Traktoren, manche mit 180 PS und mannshohen Reifen. „Mir tun die Milchbauern leid“, sagt Fischer mit Blick auf seine Wessi-Kollegen, für die wird es ganz eng.“ Ein Bauer aus dem Unterallgäu erzählt, bei ihnen gebe es nur noch die Devise „Wachsen oder weichen“. Vor 30 Jahren seien es noch 40 Bauern in seinem 250-Seelen-Dorf gewesen, letztes Jahr noch 12, dieses nur noch 4. Nur um zu demonstrieren, sind sie die ganze Nacht durchgefahren: „Ja freilich“, sagt ein Allgäuer, „es geht ja ums Überleben.“

Die Bus-und-Traktor-Karawane zieht die Bismarckstraße hinunter zum Ernst-Reuter-Platz, die Bauern in den Bussen steigen aus, marschieren zur Siegessäule, wo die Abschlußkundgebung stattfindet. Manche Traktoren hupen, viele Passanten winken, die Polizei regelt den Verkehr, stadteinwärts gibt es kein Durchkommen.

„Der Bauernpräsident wird das auch sagen“, meint Fischer und deutet auf ein Plakat „Agenda 2000 nicht mit uns“, aber am Ende werde er zugeben müssen, „doch mit uns“, prophezeit Fischer und lacht bitter. Am Ernst-Reuter-Platz haben sich etwa zehn Arbeitslose der „Arbeitsloseninitiative Neukölln“ mit einem Spruchband aufgestellt. Warum sie zu den Bauern gekommen sind? „Um zu zeigen, was auf sie zukommt“, sagt ein Arbeitsloser. Philipp Gessler