Unkalkulierbare Kettenreaktionen

■ Kosovo (III): Die Raketen und Bomben der Nato sollen Leid verhindern, tatsächlich werden sie es zunächst vervielfachen

Die Nato hat ihre Kriegsmaschinerie gegen Serbien in Bewegung gesetzt: Um die Menschenrechte der Kosovo-Albaner zu verteidigen, den zerstörerischen Vormarsch der serbischen Streitkräfte zu stoppen und eine humanitäre Katastrophe in der Provinz zu verhindern. Marschflugkörper, Raketen und Bomben sollen den jugoslawischen Präsidenten, Slobodan Milosevic, weich- und die jugoslawische Armee kampfunfähig machen sowie Belgrad zwingen, die Stationierung von 28.000 Nato- Soldaten im Kosovo zu billigen.

Mit diesen Argumenten begründen die USA und die EU die militärische Intervention in einem souveränen europäischen Land, das allerdings nicht im geringsten den Wertvorstellungen der westlichen Demokratie und den rechtlichen Standards der UN entspricht. Zwei Fragen drängen sich auf: Welche Folgen wird die Intervention der Nato haben? Und warum ist das Nato-Mitglied Türkei nicht einem ähnlichen Druck der internationalen Gemeinschaft ausgesetzt? Das brutale Vorgehen der türkischen Armee gegen die Kurden und die Verletzung der Menschenrechte in diesem Land sind schließlich allgemein bekannt. Die zweite Frage ist mit der „Nato-Mitgliedschaft“ schnell und abschließend beantwortet.

Zur ersten Frage und damit zu den Folgen einer massiven Intervention der Nato gegen militärische Stellungen in Serbien: Der militärische Versuch, die Eskalation einer humanitären Katastrophe im Kosovo aufzuhalten, wird, zumindest kurzfristig, die bisher größte humanitäre Katastrophe im Kovoso auslösen. Die jugoslawische Armee, ohnmächtig gegen den Feind in der Luft, wird mit aller Gewalt auf alles Albanische im Kosovo losschlagen. Erst jetzt werden Panzerverbände, schwere Artillerie und Boden-Boden-Raketen so richtig eingesetzt und wird eine Säuberung des Terrains von der UÇK mit aller Brutalität durchgeführt werden.

Auf der anderen Seite wird auch die „Kosovo-Befreiungsarmee“ (UÇK) die lang erwartete Unterstützung aus der Luft ausnutzen und mit allen verfügbaren Mitteln auf alles Serbische losschlagen. Die Nato wird de facto als Luftwaffe der UÇK fungieren. Die UÇK ist kein Knabenchor, sie wird von linken Extremisten angeführt, die nicht einmal den gewählten Präsidenten der Kosovo-Albaner, Ibrahim Rugova, anerkennen. Außerdem wird die UÇK in Nordalbanien immer stärker. Der Ex-Präsident Albaniens, Sali Berisha, rechnet mit der Hilfe der erstarkenden UÇK, um mit der vom Westen unterstützten Regierung in Tirana abrechnen zu können.

Dieser Gefahr ist sich die internationale Gemeinschaft durchaus bewußt, bestätigte der EU- Kosovo-Beauftragte, Wolfgang Petritsch. Doch da die Kosovo-Albaner nun einmal das Abkommen der Kontaktgruppe über die Übergangslösung im Kosovo unterzeichnet haben, stellt sich die Nato auf ihre Seite. Nur: Das Ziel der UÇK ist die Unabhängigkeit der Provinz. Die EU und die Vereinigten Staaten dagegen schließen die Veränderung der jugoslawischen Grenzen nachdrücklich aus. Der Verbündete von heute wird sicher der Feind von morgen sein.

Entschlossen, im Kosovo militärisch vorzugehen, nimmt die Nato eine im Moment undurchschaubare Verschlechterung der Beziehungen mit Rußland in Kauf. Was wird die westliche Allianz tun, wenn Milosevic nach allen Bomben der Nato immer noch nicht nachgibt? Die Entsendung von Bodentruppen nach Serbien ist ein Alptraum der Nato-Strategen. Immerhin geht man davon aus, daß Belgrad problemlos bis zu 500.000 Soldaten mobilisieren könnte, und momentan ist die Kampfmoral in Serbien ziemlich hoch. Experten vor Ort gehen davon aus, daß sie sich, angespornt durch die gleichgeschalteten Medien, steigern könnte, wenn die Meinung vorherrscht, das Vaterland gegen einen Außenfeind zu verteidigen.

Auch besteht die Gefahr, daß nach den ersten Luftschlägen die jugoslawische Armee die 15.000 in Makedonien stationierten Nato- Soldaten angreift. Sie befinden sich kaum 20 Kilometer von der jugoslawischen Grenze entfernt. In diesem Fall ist Makedonien automatisch in den Krieg involviert. Die Repressionen des serbischen Regimes und die Verletzung der Menschenrechte im Kosovo stehen außer Frage. Doch um einen lokalen Konflikt zu lösen, riskiert die Nato einen unüberschaubaren und überregionalen Konflikt. Bomben und Raketen sollten weiteres menschliches Leid verhindern. Vorerst werden sie es vervielfachen, weil die letzten Hemmungen des serbischen Regimes wegfallen werden. Serbien steht auch noch die Abrechnung mit den „inneren Feinden“ bevor, mit der fünften Kolonne, das heißt mit allen, die das Regime kritisieren. Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung schon den „Zustand unmittelbarer Kriegsgefahr“ verhängt. Nach den ersten Nato-Bomben wird das Regime Milosevic innenpolitisch stärker sein. Erwartungsgemäß werden ab sofort alle unabhängigen Medien in Serbien noch mehr behindert als bisher. Der wichtigste unabhängige Belgrader Radiosender, B92, wurde gestern um zwei Uhr früh gewalttätig durch die Polizei geschlossen, der Direktor, Veran Matic, verhaftet. Die Botschaft des Regimes ist eindeutig: Wenn der weltbekannte B92, der etliche internationale Preise für den Kampf für Demokratie erhalten hat, mir nichts, dir nichts ausgeschaltet werden kann, dann wehe allen anderen kleinen und unbekannten unabhängigen Medien.

Die größte Gefahr ist jedoch nicht einmal der Krieg im Kosovo. Milo Djukanovic, der Präsident der zweiten jugoslawischen Teilrepublik Montenegro, erklärte offen: „Für Milosevic ist nicht das Kosovo das Hauptproblem, sondern Montenegro wegen seines reformistischen und demokratischen Kurses.“ Die montenegrinische Regierung verkündete, im Falle einer Auseinandersetzung mit der Nato neutral bleiben zu wollen. Montenegro will, wenn nötig mit Gewalt, verhindern, daß militärische Einrichtungen auf seinem Boden benutzt und montenegrinische Wehrdienstpflichtige mobilisiert werden, und erkennt die Ausrufung der unmittelbaren Kriegsgefahr nicht an. Es besteht also die Möglichkeit, daß Montenegro in Kürze seine Unabhängigkeit erklärt und ein Bürgerkrieg in der kleinen Adriarepublik entflammt.

Die Resultate und die Folgen der Nato-Intervention bergen das Risiko einer Eskalation in der ganzen Region in sich. Auch in Bosnien ist eine Kettenreaktion zu erwarten. Dort werden die Spannungen zwischen bosnischen Serben und der SFOR immer größer. Andrej Ivanji