Filme aus der Tiefkühltruhe

■ Genau einmal im Monat fangen die Bilder in der Weserburg das Laufen an. Seit über sechs Jahren lädt Christine Rüffert zu einer exquisiten Experimentalfilmreihe ins Museum: zum Beispiel Filme aus Oberhausen

Seit 35 Jahren stellt der Münchner Fotograf Stefan Moses Promis vor einen C&A-Ankleidespiegel. Darin dürfen sie sich dann selbst abknipsen. Fotografie heißt nicht nur Menschen vorzuführen, sondern aufzeigen, wie Menschen sich selber sehen. Auch der Experimentalfilmer Takashi Ito zeigt in seinem 10-Minuten-Werk „Monochrome head“ einen Menschen, der sein Abbild in einem Spiegel (hier in einer öffentlichen Toilette) sucht – und nicht finden kann, weil die Kamera sein Gesicht verdeckt. Zu sehen war der Film am Mittwoch in der Weserburg.

Dort wurde eine Auswahl der Kurzfilmtage Oberhausen von Hilke Döring, einer der vier FestivalleiterInnen, vorgestellt. Eine Schule des Sehens. Denn wer sich ein paar Monate lang nur von Hollywood mit seinem begrenzten Formen- und Themenkatalog ernährt, den ereilt mit schöner Regelmäßigkeit heiliges Erschrecken, wenn er wieder am Mut und Einfallsreichtum des Experimentalfilms naschen darf. Takeshi Ito bewegt sich frei wie ein Vogel auf der Schiene der Zeit: Kerzen brennen rückwärts, wachsen, als würden sich Verluste wieder Wett machen lassen, Schornsteine verheddern sich in einer Zeitschlaufe, blasen Rauch aus und saugen ihn ökobewußt wieder ein, Menschen träumen in Slow motion um schließlich ganz zum Standbild zu gefrieren. Und eine Frau, die Baseball mit der Leere spielt, springt bruchlos von Ort zu Ort, als wäre Veränderung nicht mehr angewiesen auf die Mühen des Wegs.

Bei den Gourmet-Kostproben von Deutschlands renommiertestem, 44 Jahre altem Kurzfilmfestival gab es nicht nur musikalisch-mathematisch rhythmisierte Form, sondern auch die kleine Große Erzählung. Ein Animationsfilm eines jungen Filmstudenten treibt zarte Gefühle – Nostalgie, Sehnsucht, Liebe – ganz tief in vermeintliche Regionen des Ekels – Leichenschändung, Verwesung – hinein. Und Isabell Spengler fingiert ein wagemutiges Experiment: Was passiert, wenn eine junge, schöne Frau alle Grenzen der Vorsicht hinter sich läßt und jedem zufälligen Passanten Körper und Herz zu Füßen wirft? Nicht viel – und gerade deshalb ein witziger Film.

Die Einladung von Hilke Döring geht auf das Konto von Christine Rüffert vom Kino 46. Fast seit Bestehen der Weserburg, genauer seit November 1992, lädt sie internationale Stars des Experimentalfilms (Hochschulprofs aber auch einen Paul Winkler, der sich den Lebensunterhalt als Hafenarbeiter und Tischler verdient) und junge, aufstrebende, deutschen Talente ins Museum. Am Anfang dominierten noch die Filmhistoriker mit ihren Vorträgen zu Experimentalfilmklassikern wie von Walter Ruttmann oder Marie Menken. Mittlerweile kommen immer öfter die Künstler selbst.

Der Kurzfilm dürfte die einzige Kunstgattung der Galaxie sein, bei der 50 Prozent des Ausstoßes das Etikett „experimentell“ redlich verdient. Als Ordnungsraster für das wilde Sammelsurium aus derbem Trash, abstrakten Explosionen, genauen Sensibilitätsschulungen etc. schlägt Christine Rüffert zwei Kategorien vor: den „strukturellen Film“, der die Grundlagen des eigenen Mediums – Zeit, Farbe, Wiederholung, Schnitt ... – thematisiert und den „biographischen Film“. Alles was Rang und Namen hat, war bereits in Bremen: Utako Koguchi oder Jochen Kuhn. Der große Publikumsrun mit 200 Besuchern aber erfolgt nur bei Filmen von Warhol oder Beuys. „Im Vergleich zu anderen deutschen Spielstätten aber liegen wir gut.“ Als langjähriges (seit 1990) Mitglied der Auswahlkommission des renommierten „European Media Art Festivals“ in Osnabrück hat Rüffert nicht nur einen fulminanten Kenntnisstand, sondern ist auch Teil jenes von Künstlern und Cineasten geknüpften alternativen Vertriebsnetzes, das dem Avantgardefilm Aufführungsmöglichkeiten vermittelt, und zwar von Australien bis Graz: Denn weder Kinos noch Museen – rühmliche Ausnahme Weserburg – tun sich besonders hervor bei dessen Pflege. Dank dieses Netzwerks also waren in Bremen schon diverse „Materialfilme“, also Filme, die auf ökologische Weise bearbeitet werden, z.B. durch Verbuddeln in der Erde. Auch das Lagern in der Tiefkühltruhe soll schöne Erfolge zeitigen. Found footage-Filme dagegen sind – in Analogie zu Dechamps (u.a.) object trouves – aus Fundmaterial zusammengeschnipselt; Birgit Heins „Rohfilm“ etwa aus den verkratzten bunten, gestreiften Start- und Endbändern von Filmrollen. Eine noch unbarmherzigere Geduldsprobe ist Michael Snows legendärer „Wavelengths“, der sich in 40 Minuten nichts anderes vornimmt als ein einziges Bild mit wechselnder Distanz und Brennweite zu beglotzen.

Die Grundmuster des Erzählens (Dadaismus, Surrealismus, Schwarzer Humor ...) sind längst entwickelt. Veränderungen, so Rüffert, passieren eher in der Entwicklung des Mediums. Zur Zeit sind verschmutzte, nostalgiefarbige Super 8-Bilder angesagt, die auf Video gezogen und bearbeitet werden, um dann auf 16mm zurückkopiert zu werden. „Mittlerweile kann man bei ineinandergeschachtelten oder farbverfremdeten Bildern oft nicht mehr sagen, ob die Manipulation mit dem Computer oder ,per Hand' – durch Überblenden, Filter, Abdecken – erzeugt wurde.“ Im Zweifelsfall ist es die Tiefkühltruhe. bk