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Die Welt, die aus dem Mantel kriecht

Wie man sich seinen eigenen Körper zusammensetzt: Die Klasse für expressive Bewegung aus Moskau brilliert in den Sophiensälen mit ungebrochenem Ausdruckswollen und höchst clowneskem Witz  ■ Von Katrin Bettina Müller

Haben Sie heute ihren Kopf gut festgeschraubt? Die Füße richtigrum angelegt und nicht wieder rechts und links verwechselt? Daß dies keine Kleinigkeit ist, zeigt die Klasse für expressive Bewegung aus Moskau in ihrer Improvisation „Staja (Der Schwarm)“.

Einen Körper hat man nicht nur, man macht ihn sich auch. „Staja“ beginnt mit einem mythischen Prolog: Während das Meer rauscht und der Wind brüllt, taucht aus dem Dunkel langsam ein schwankender Berg von Lumpen auf, ins Nichts gespültes Strandgut. Heraus platzen die elf Spieler der Gruppe, nackt und bloß. Alles, was sie für die Erfindung ihrer Rollen und Geschichten mitbekommen, ist ein Berg von Mänteln. Mit ihnen werden sie zu Männern und Frauen, Müttern und Kindern, Herr und Knecht, Kleiderständern und Exhibitionisten (ganz kurz). Selbst das Problem, wie man Engelsflügel im Mantel trägt, wird gestreift.

Bald wird der Manteltausch vom Übungsanlaß, Bewegungscharaktere durchzuspielen, zu einem virtuosen Reigen. Mäntel schwirren durch die Luft wie Fledermäuse. Links schlüpfen die Tänzer noch aus dem einen Mantel hinaus, rechts schon in den nächsten hinein, und das verbindet flatternde Stoffe und wirbelnde Leiber in immer länger werdenden Ketten, bis das Spiel etwas von schweißtreibender Fließbandarbeit bekommt.

Expressivität ist Arbeit. Die Spannung der Tänzer reicht bis in die Zehen, die den schnauzbärtigen Star der Gruppe einmal wie zehn kleine Schwerstarbeiter ein paar Meter mitschleifen. In diesem ungebrochenen Ausdruckswollen jeder kleinen Muskelzuckung unterscheidet sich die russische Gruppe von der hiesigen Tanztheaterszene ebenso wie in ihrem clownesken Witz, der sich besonders mit dem Auftritt kopfloser Bäuche in der zweiten Hälfte des Stücks entfaltet.

Kaum sind sie auf der Welt, schon werden sie rebellisch. Die Bäuche, anfangs von ihren Müttern vor sich hergeschoben, verweigern bald die Rückkehr unter den mütterlichen Mantel. Es dauert, bis man in diesen kopflosen kleinen Monstern, deren kurze Ärmchen einen entschiedenen Willen ausdrücken, die Konturen der wie Taschenmesser zusammengeklappten Tänzer ausmacht. Daß sie nicht mehr sehen können, wohin sie laufen, erzeugt eine seltsame Faszination, die den Zuschauer in die grotesken Leiber hineinzieht.

Mit dem Blick fehlt ihnen auch die Selbstkontrolle und also handeln sie hemmungslos in ihrer Gier nach Leben. Kinder dürfen so nach allem grapschen, aber die Mantelmonster sind eher welche, die das Erwachsenwerden verweigern.

Zu bewundern ist die Ökonomie dieser Geburt des Komödiantischen aus einem Lumpensack. Zwar wird allem Spaß zum Trotz kein Stück aus den Episoden; sie bleiben Improvisationen, die ihre Herkunft aus gruppendynamischem Aufwärmen und circensischem Wettbewerb nicht verleugnen.

1990 wurde die Klasse von dem russischen Choreographen Gennadi Abramow an dem Moskauer Theater „Schule der dramatischen Kunst“ gegründet. Sechs der Tänzer haben das letzte Stück von Sasha Waltz „Na Zemlje“ mitentwickelt, das in seinen Bildern archaischer und bedrängender ist. In „Staja“ lassen sich zwar Spiegelbilder sozialer Beziehungen in allen grotesken Verformungen finden, doch zusammengehalten werden sie nur durch das Mantelmotiv.

Sophiensäle, Sophienstraße 18, noch bis 28. März, 20 Uhr

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