Balkan bleibt Pulverfaß

■ Der russische Historiker Alexander Karasow über Moskaus Sicht auf den Kosovo-Konflikt

taz: Die russische Öffentlichkeit kocht. Weder die Nato-Erweiterung noch die Luftangriffe auf den Irak konnten sie vorher derart aufbringen. Woran liegt das?

Alexander Karasow: Früher war das eher ein Thema der Politiker. Jetzt ist die Öffentlichkeit zum ersten Mal ernsthaft beunruhigt. Vielleicht hängt das mit den Erfahrungen im Kaukasus zusammen, daß sich der Konflikt nicht gewaltsam lösen läßt. Außerdem herrscht große Angst, die Beziehungen zu Europa und den USA könnten irreparablen Schaden nehmen.

Wenn diese Einsicht vorliegt, hätte Moskau dann nicht strenger mit Milošević umspringen müssen? Die Serben haben sich anscheinend darauf verlassen, der Kreml würde doch noch einen Trumpf aus dem Ärmel ziehen und sie retten.

Wir dürfen nicht vergessen, daß Serbien in Rambouillet bereit war, den Albanern weitreichende Autonomie zuzugestehen. Die territoriale Einheit Jugoslawiens muß gewahrt bleiben und das verlangt, daß die Serben als Minderheit im Kosovo Garantien erhalten. Ein unabhängiges Kosovo würde die Sicherheit auf dem Balkan nicht verbessern. Die Ambitionen der Albaner, ein Großalbanien zu errichten, sind nicht nur Hirngespinste. Deshalb gilt es, beide Seiten unter Druck zu setzen und UNO- Friedenstruppen während einer Übergangsperiode den Konflikt überwachen zu lassen.

Russische Militärs weisen darauf hin, die Serben könnten die Nachbarregionen mit einem Partisanenkrieg überziehen.

Der Balkan bleibt ein Pulverfaß. Die Serben fühlen sich ungerecht behandelt und in die Ecke getrieben. Außerdem haben sie der Nato nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Da drängt sich der Gedanke an einen Partisanenkrieg geradezu auf. Zumal die Aggression ohne UN-Mandat erfolgt ist.

Worauf gründet die vielbeschworene russisch-serbische Bruderschaft? Ein Blick in die Geschichtsbücher läßt zweifeln.

Die Russen empfinden gegenüber den Serben wirklich Sympathie. Unsere Sprachen sind ähnlich, und auch der Glauben ist derselbe. Eine wichtige Rolle spielte überdies die Ähnlichkeit der historischen Schicksale beider Völker. Obwohl heute einige von uns warnen, die Serben ziehen uns wie 1914 wieder in einen fatalen Krieg. Man muß die menschliche Seite der Gemeinsamkeiten von der großen Politik trennen. Da herrschten in der Tat einige Mißstimmungen vor. Die Nähe erklärt auch, daß im russischen Bürgerkrieg sehr viele hohe Militärs und Intellektuelle nach Jugoslawien geflüchtet sind und einen wichtigen intellektuellen Beitrag geleistet haben. Interview: Klaus-Helge Donath