Schuld war nur der Bossa Nova

Mit Hilfe des amerikanischen Soldatensenders AFN kam Anfang der fünfziger Jahre endlich ein anderer Ton in das deutsche Musikwesen. Heute existieren alle Stile mehr oder weniger friedlich nebeneinander: die Böhsen Onkelz wie Xavier Naidoo. Teil XI der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ Von Jan
Feddersen

Nur wenig war am Anfang neu. Ein Zeitzeuge, selbst fleißiger Theater- und Operngänger, erinnert sich genau an die ersten Jahre nach dem „Zusammenbruch“, wie die Niederlage Nazideutschlands hierzulande gern empfunden wurde. „Ich sah entweder den alten Illusionsplunder, der um so peinlicher wirkte, als die Not aus jeder Falte der mager bestrichenen Kulisse lugte; oder die alte Spielastik, deren bewährte Effekte Sinn und Geist jeglicher Musik abtöten. Ich las Opernspielpläne, die sich kaum von den Spielplänen des ,Tausendjährigen Reiches' unterschieden.“ Das weniger gebildete Volk liebte Operetten, die Musicals unserer Großeltern; „Im Weißen Rößl“ oder „Die Blume von Hawaii“ durfte man vergessen. In den Konzertsälen wurden aber auch wieder Stücke verfemter Komponisten gespielt, Hindemith, Milhaud, Strawinsky oder Prokofjew.

Mit dem fruchtbaren kulturellen Durcheinander der Weimarer Republik hatten diese Rehabilitationsmühen freilich nichts gemein. Vor allem die geschmähten Bildungsbürger nahmen die klassische Musik, um darin zu versinken und sich ihrem Weltschmerz hinzugeben. In einigen Rundfunkstationen – wie beim Südwestfunk in Baden-Baden – wurden schon kurz nach Kriegsende Sendereihen mit Neuer Musik ins Programm genommen. Populär wurden solche pädagogisch reizarmen Angebote von Neuem bis heute nie. Wenn das Publikum allein das Sagen hatte, bei den „Wunschkonzerten“ zum Beispiel, wurde gespielt, was ihm am liebsten ist: nichts als Sentimentalitäten.

Aufbruch nach dem Zusammenbruch? Keine Spur. Unterhaltung – da waren sich fast alle einig, Altnazis, Antinazis und die Alliierten – war nichts, was der politischen Auseinandersetzung bedürfte. Selbst eine Zarah Leander (“Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“) hatte in den fünfziger Jahren eine dankbare Fangemeinde, die beflissen darüber hinwegsah, daß die Schwedin den Nazis gerne die Durchhaltedrossel gegeben hatte. Wie überhaupt niemand, der bei den Nazis Unterhaltungspropaganda mitbetrieb, nach dem Zweiten Weltkrieg behelligt wurde.

Das Gegengift kam aus Amerika. Was der Soldatensender AFN ausstrahlte, war vollständig undeutsch und stand damit im Kontrast zur sonstigen Ätherware: Jazz, Swing und später Rock'n'Roll; aggressive, muntere Stücke mit Rhythmus, modern und frei von Polka und Marschfox. Deutsche Bandleader wie Kurt Edelhagen, Hugo Strasser, Paul Kuhn und Max Greger orientierten sich an dieser amerikanischen Ästhetik – wie auch jene Jugendlichen, die mit der dumpfen Musikseligkeit ihrer Eltern nichts zu schaffen haben wollten. Über AFN wurde Bekanntschaft gemacht mit Louis Armstrong, Bill Haley und später mit Elvis Presley: Das war so weit von den Caprifischern entfernt wie Zarah Leander von Nina Hagen.

Damals wurden die ersten Risse in der deutschen Alltagsmusikkultur sichtbar. Hie die gartenzwergigen Deutschen, für die alles mit tanzbarem, erregendem Rhythmus schon immer „Niggermusik“ war (später in den sechziger Jahren hieß das: „Hottentottenmusik“), dort die Konsumenten, für die Humtataklänge unerträglich schienen.

Mitte der fünfziger Jahre waren es Stars wie Peter Kraus und Conny Froboess, die den jungen Deutschen Appetit auf die englischsprachigen Originale machten: Peter & Conny, heute gern als wenig authentische Lightversionen amerikanischer Kultur abgetan, waren bei deutschen Spießbürgern der Vorachtundsechzigära böse umstritten und damit Avantgardisten des „Ami-Mists“ (wie Eltern oft die kulturellen Neigungen ihrer Kinder hießen).

Die ersten Rock'n'Roll-Konzerte waren des Teufels, selbst bei Liberalen. Die Zeit rügte 1958 in einer Konzertbesprechung: „Rock'n'Roll ist eine Epidemie, die man als Tanzwut bezeichnen kann. Der große Arzt Paracelsus empfahl gegen die zu seiner Zeit auftretenden Fälle von Massentanzhysterie folgende Gegenmaßnahmen: Isolierung der Tanzwütigen, wodurch die Sache ihre Suggestionskraft verliert. Weiter empfahl er die Anwendung von Prügel und Güssen mit kaltem Wasser.“

Nein, die Zeitung, die sich damals (wie heute) so enttäuscht zeigt über das angeblich mangelnde Qualitätsbewußtsein der deutschen Jugend, weil sie partout nur begrenzt Free Jazz und Klassik goutieren mag, diese wie andere Zeitungen verstanden nicht, was seit Mitte der fünfziger Jahre geschah: Protest gegen den Muff der falschen fuffziger Jahre, gegen die triedelige Munterkeit der Bully Buhlans und Maria Muckes.

Unter dieser Revolte mußte Caterina Valente leiden, die in Deutschland erst landen konnte, als sie „Ganz Paris träumt von der Liebe“ sang und jede Jazzerei, auf die sie sich bestens verstand, vermied. Noch Anfang der sechziger Jahre mußte sich Marlene Dietrich, Frontkämpferin gegen die Nazis, bei Auftritten in Deutschland als Vaterlandsverräterin beschimpfen lassen. Unpolitisch war Unterhaltung in Deutschland nie.

In den sechziger Jahren entdeckten ausländische Plattenstars wie Petula Clark, Francoise Hardy oder Esther Ofarim den deutschen Plattenmarkt und sangen deutsch. Trotz dieser internationalen Unterstützung galten Schlager in Deutschland bald endgültig als verstaubt und peinlich. Mehr und mehr Jugendliche konnten Englisch verstehen und verlegten sich in ihren Hörgewohnheiten auf angloamerikanische Waren. Beat und Rock waren zunächst nichts anderes als das beste Mittel, sich gegen Zumutungen der Karel Gotts und Gotthilf Fischers und Peter Alexanders und Roy Black zu behaupten.

Immerhin, in den siebziger Jahren gab es honorige Versuche, moderne Musik mit deutscher Sprache zu verbinden. Bands wie „Lokomotive Kreuzberg“, „Ton Steine Scherben“ und „Kraftwerk“, Sänger wie Udo Lindenberg (“Hoch im Norden“) oder Joy Fleming (“Neckarbrückenblues“), aber auch sogenannte Liedermacher wie Reinhard Mey, Ulrich Roski, Franz Josef Degenhardt oder Hannes Wader besetzten zumeist von Gymnasiasten geschätzte Nischen, ohne daß sie es wirklich je bis an die Spitzen der Hitparaden gebracht hätten. Ansonsten war deutsches Liedgut verpönt, weil es unter Verdacht stand, nur dem Regime der zähnefletschenden Gemütlichkeit zu dienen.

Öffentlich-rechtlich abgesegnete Zensurstrukturen waren da noch längst nicht abgeschafft. Bis weit in die sechziger Jahre hinein weigerten sich die meisten bundesdeutschen Radiostationen, überhaupt Rock- oder Beatmusik zu spielen. Kein Wunder, daß ein kleiner Sender wie Radio Luxemburg, fern des Zugriffs deutscher Jugendprüfstellen, Ende der fünfziger Jahre seinen Sendebetrieb Richtung Deutschland aufnahm und zur tonangebenden Station bei Jugendlichen wurde: Dort wurde gespielt, was in war. Bei denen maßte sich niemand an, die eingehenden Schallplatten danach zu sortieren, ob sie kulturell wertvoll sind oder nicht.

Entscheidend waren die Hörer und Hörerinnen; strikt demokratisch konnten sie darüber abstimmen, was sie hören wollten und was nicht. (Erst als Mitte der achtziger Jahren Privatradios die Märkte zu erobern begannen, orientierten sich Stationen wie der NDR endlich auch daran, was ihrer Hörerschaft gefällt.)

In der DDR verlief die Entwicklung ähnlich: Erst Mitte der siebziger Jahre wurde angloamerikanische Popmusik zu spielen erlaubt. Die Ausrede, warum diese Bevormundung nicht eher aufgehoben wurde, leuchtete realsozialistischen Freunden von der DKP so ein: Dem Arbeiter-und-Bauern-Staat fehlte es an Devisen für die Tantiemen...

Trotzdem geben die Hitparaden seit Anfang der fünfziger Jahre verläßlich Auskunft über den Zeitgeist des Landes. In den fünfziger Jahren avancierte Freddy Quinn mit seinen Heimweh- und Seemannsliedern zum Idol der Vertriebenen und aller anderen deutschen Landsmannschaften, die sich um ein Heimatgefühl betrogen sahen. In den sechziger Jahren war es ein Österreicher wie Udo Jürgens, der den Deutschen den Weltschmerz mittels italoinspirierter Songs wie „Und immer wieder geht die Sonne auf“ austrieb.

Im darauffolgenden Jahrzehnt verlegten sich die Deutschen aufs Feiern. Sänger wie Jürgen Marcus, Cindy & Bert oder Su Kramer – auch sie Achtundsechziger, die ihre ersten Showschritte beim Musical „Hair“ unternahmen –, Tina York oder Séverine wollten sich die Laune nicht verderben lassen: „Jetzt geht die Party richtig los.“ Aber auch eine Juliane Werding mit „Am Tag, als Conny Kramer starb“ oder Ewigrocker Peter Maffay begannen damals ihre Karrieren.

Als die Schunkeleien nur noch auf die Nerven gingen, probierten junge Musiker andere Konzepte. Nena (“99 Luftballons“), Ideal (“Monotonie“), Spliff (“Carbonara“) oder Fräulein Mencke (“Hohe Berge“) waren die Neue Deutsche Welle, die in die deutsche Popmusik Ironie und Witz einführten.

Zugleich machten Spätachtundsechziger Karriere: Gitte Haenning mit feministischen Erörterungen (“Ich will alles“), Ulla Meinecke mit Beziehungsgrübeleien (“Nie wieder“) oder Herbert Grönemeyer mit munteren Zerknirschtheiten (“Männer“). Oder solche wie Klaus Lage beispielsweise, der singende Gewerkschaftssekretär (“Faust auf Faust“), Rio Reiser (die Ex-“Scherbe“, sogar Hitparadenking mit „König von Deutschland“) oder der Studienrat Heinz Rudolf Kunze (“Dein ist mein ganzes Herz“). Interpreten, die auf deutsch Erfolg hatten und nicht im Verdacht standen, Schlagersänger zu sein.

Heute schafft es eine rechte Gruppe wie die „Böhsen Onkelz“ bis in die Charts. Aber auch ein dunkelhäutiger Sänger wie Xavier Naidoo, Mannheimer von Herkunft. Es gibt keinen einen Zeitgeist mehr.

Die Neue Deutsche Welle ist abgeebbt. Geblieben ist ein Riesenmarkt, nach den USA sogar der weltweit fetteste, auf dem stilistisch alles erlaubt ist, Hauptsache, der Stoff findet Käufer. In deutschen Studios wurde Techno erfunden, deutscher Beitrag zur Weltmusik – vielleicht, weil er auch nichts anderes ist als Marsch, was freilich bei Berliner Loveparaden schlurfend und tanzend dementiert wird.

Sänger wie Guildo Horn, musikalisch groß geworden mit Radio Luxemburg am Koffergerät, unangekränkelt von der Vorstellung, daß erst Cool Jazz wahren Genuß bereitet, haben endgültig mit der Vorstellung aufgeräumt, daß Musik entweder Schlager oder Rock oder Pop oder Spaß oder Aufklärung sein muß.

Musik in Deutschland ist nur noch ein Geschäft für und in Nischen. Die eine und einzige Volksmusik gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch Volksmusiken, ob nun in Gestalt des Naabtal Duos oder von Rosenstolz. Keiner kann mehr vorschreiben, was das Gute, Wahre, Schöne ist. Musik ist wie alle Kultur nichts als Ornament des Alltags. Deutschland ist im Westen angekommen.

Jan Feddersen, 41, Redakteur im taz.mag, hört am liebsten Hildegard Knef, Joan Baez, die Indigo Girls, Cilla Black, Garth Brooks und Marianne Mendt