„Wir erfüllen ein Vermächtnis“

Seit fünf Jahren kümmern sich die Hamburger Pastoren Rainer Jarchow und Nils Christiansen in St. Georg hauptamtlich um HIV-Positive und AIDS-Kranke  ■ Von Eberhard Spohd und Markus Scholz (Fotos)

„Als ich meine erste Sprechstunde abhielt, kam jemand zu mir und sagte: ,Ich werde mir heute nacht das Leben nehmen.' Da habe ich versucht, über meine Unsicherheit hinwegzusabbeln.“ Inzwischen ist Nils Christiansen für solche Situationen besser gewappnet. Der 34jährige hat Strategien entwickelt, mit dem täglichen Tabubruch umzugehen. Seit dem 1. Juni 1995 ist der ausgebildete Theologe und Kunsthistoriker AIDS-Seelsorger der Nordelbischen Kirche. Und beschäftigt sich hauptamtlich mit Krankheit und dem Tod. „Heute versuche ich in solchen Momenten nicht mehr, meine Unfähigkeit zu überspielen, sondern bekenne, daß ich auch keine Antwort habe.“

Auch Christiansens Kollege Rainer Jarchow weiß um die Schwierigkeiten seines Amtes. Er war der erste hauptamtliche Pastor in Hamburg, dessen Stellenbeschreibung ihn ausschließlich Menschen mit HIV und AIDS zuschrieb. Seit nunmehr fünf Jahren arbeitet der 57jährige in dem Büro in St. Georg. „Das war damals eine Sensation: In einer Zeit, in der die Evangelische Kirche überall Pastorenstellen einsparte, wurde unser Antrag in kurzer Zeit genehmigt.“ Sensibilisiert worden waren die Verantwortlichen durch drei Pfarrer, die kurz hintereinander an AIDS erkrankten. Dies überwand den Widerstand der Kirche, sich mit AIDS und Sexualität, vor allem auch Homosexualität, zu beschäftigen. „Es ging mir genauso: Wenn man jemanden kennt, der an AIDS erkrankt, will man alles über die Krankheit wissen“, beschreibt Jarchow die Motivation seiner Oberen, „dann wirft man schon einmal seine Vorurteile über Bord.“

Um diesen Gesinnungswandel umzusetzen, stellte die Kirche zwei Männer ein, die sich für die gleiche Sache einsetzen, aber unterschiedlicher kaum sein könnten. Christiansen ging vom Theologiestudium direkt in Vikariat und Pastorat. Was er erzählt, klingt kontrolliert, reflektiert. Jarchow ist zwar auch ordinierter Pastor, war aber für 14 Jahre aus diesem Beruf und seinem vorherigen Leben ausgestiegen. Zweieinhalb Jahre verbrachte er in Griechenland. Nach seiner Rücckehr arbeitete er als Leiter der städtischen AIDS-Beratung in Köln und machte für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung AIDS-Prävention in den neuen Bundesländern. Über eine Zeitungs-Annonce wurde er auf die Stelle in St. Georg aufmerksam.

„Für mich schloß sich dadurch ein biographischer Bogen“, erklärt der Hamburger seine Rückkehr in die Hansestadt. Als er die Stelle antrat, war ihm nicht so richtig klar, wie sie mit Leben zu füllen sei. „Das einzige, was ich wußte, war, daß ich regelmäßig einmal im Monat AIDS-Gottesdienste abhalten wollte.“ Seitdem fällt in Jarchows Gemeinde am letzten Sonntag im Monat der Gottesdienst um zehn Uhr aus. Statt dessen füllt abends um sechs eine illustre, überwiegend schwule Gemeinschaft das Kirchenschiff.

Fast alle Menschen, mit denen Jarchow und Christiansen zu tun haben, versammeln sich bei diesen Messen. „Mir hat mal einer geschrieben: Das erste Mal habe ich Kirche als angstfreien Raum erlebt“, sagt Jarchow, „das ist genau das, was ich vermitteln will.“ Unter dem Eindruck von AIDS, erklärt er, beginnen die Infizierten, Fragen zu stellen. Nach dem Sinn des Lebens, nach dem Leben nach dem Tod, die Schuldfrage. „Das sind religiöse Dimensionen.“

Die Glaubenssätze seiner Konfession kann Jarchow zwar sämtlich nachvollziehen, „meine Arbeit verändert auch meine Theologie“. Immer mehr rückt für ihn Glaubenssatz, daß Gott die Liebe sei und damit stärker als der Tod, ins Zentrum. Die anderen Lehrsätze verblassen dagegen. „Hölle oder Jüngstes Gericht sind für mich Randaussagen“, bekennt der Mann mit den blauen Augen und wirft seiner Institution freundlich, aber bestimmt vor: „Kirche hat immer mit Angst gearbeitet.“

Das ist auch ein zentraler Punkt für Nils Christiansen. „Der Sterbende findet oftmals keinen Ausdruck für seine Angst. Wir werden die Stellvertreter dieser Menschen, die Angst vor AIDS und Furcht vor der Furcht haben.“ Der Seelsorger hat gelernt, auszusprechen, was der Hilfsbedürftige nicht in Worte zu fassen wagt. Denn „eine Rettung ist nur möglich, wenn die Menschen durch die Angst durchgegangen sind. Man kann sie nicht vermeiden“.

Rund um die Uhr sind die beiden Pastoren im Dienst. Auch nachts rufen oft Hilfsbedürftige an, die nicht bis zum Morgen auf Trost oder Rat warten wollen. Durch die Entwicklung der Kombinationstherapien, die den tödlichen Verlauf der Krankheit aufhalten, hat sich die Arbeit stark verändert. „Aber einfacher ist sie dadurch nicht geworden“, stellt Christiansen fest. Zwar können die infizierten jetzt mit AIDS leben. Aber daraus ergibt sich für die Seelsorger ein neues Aufgabenfeld. Denn viele Infizierte haben sich auf den Tod konzentriert. „Die merken jetzt, daß das Sterben in die Ferne rückt, daß sie dieses klare Ziel verlieren und daß sie wieder anfangen müssen zu leben.“

Zum anderen, so Christiansen, hätten viele Infizierte und Erkrankte durch AIDS einen persönlichen Bedeutungsgewinn erfahren. Menschen, die auf den Tod zugehen, bekommen so viel Hilfe, wie meist nie zuvor in ihrem Leben. Und dann fordert das persönliche und professionelle Umfeld sie auf, wieder ins normale Leben zurückzukehren. „Diese Menschen brauchen keine Sterbebegleitung mehr, sondern Lebensbegleitung.“

„Eine Vorbereitung auf den Tod hin ist eine relativ klare Sache“, erklärt Christiansen den Unterschied für seine Arbeit. Er weiß aus Erfahrung, daß jedes Sterben mit Gedanken verbunden ist, die sich um ähnliche Themen wie Angst und Hoffnung drehen. Als Pastor hat er die Möglichkeit, mit bestimmten Ritualen und Formen damit umzugehen. Eine Lebensbegleitung ist für ihn viel komplizierter. Die Individualität ist größer, denn „das Sterben macht alle Menschen gleich, im Leben sind sie unterschiedlich“.

Trotz der psychischen Belastung, die ihre Arbeit den beiden abverlangt, können sich die beiden Pastoren kein anderes Betätigungsfeld vorstellen. „Ich erlebe in meinem Beruf keine Langeweile, ich bin in ständiger emotionaler Präsenz“, beteuert Christiansen, „das ist ein Privileg, und darum macht die Arbeit auch Spaß.“ Auch Jarchow wird durch positive Rückmeldungen immer wieder neu motiviert.

Als er einmal ein schwules Paar im Gottesdienst segnete, bekam er die Kritik seiner Kirche zu spüren – weiß aber seitdem auch, warum er weitermacht: „Mein Kontrahent von damals leitet eine Hochzeitskirche. Der traut immer nur, während wir ständig an Gräbern stehen. Er bekommt nur die Höhepunkte zu sehen, wir die Tiefpunkte. Wir erfüllen ein Vermächtnis. Das ist sehr befriedigend.“