Fleischseite nach innen

Vom „Dudelsack“ und anderen Begebenheiten  ■ Von Gabriele Goettle

Ein kalter Wind bläst an diesem Morgen. Fröstelnd stehen die Armen am Seiteneingang der Kirche, rauchen und begrüßen die Neuankömmlinge. Ein sich rasch nähernder Mann mit nackten Armen und piratenhaft geknüpftem Kopftuch wird kurz gemustert und dann nicht weiter beachtet. Er kommt aus Liverpool. Seine Lederweste ist ausgebleicht, die lederne Hose vielfach eingerissen, das Profil seiner Schuhe gleicht dem eines Lastwagenreifens. Beim Lächeln entblößt er eine lückenhafte Reihe dunkelgrauer Zähne und sein Englisch klingt wie vermischt mit Niederländisch oder Althochdeutsch. Er sieht aus wie eine Comicfigur aus einem utopischen Drama und zugleich wie „Phillip in the tube“, jenes berühmt gewesene Original, das Hogarth in seinen Stichen verewigt hat. Im Vorbeigehen ruft er: „Hello!“ – die schwarzgekleidete Mutter hebt matt ihre Hand. Sie wirkt heute noch dünner als sonst, hat schwarzumränderte Augen von verwischter Wimperntusche, hält eine Bierbüchse in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Der Wind fährt in ihr schwarzgefärbtes und durch viele Dauerwellen malträtiertes Haar, so daß es vom Kopf absteht als würde es sich sträuben. Eine Gestalt am Rande des Wahnsinns. Sie zieht mich am Ärmel zur Seite und bittet mit starrem Blick um eine Kranzspende, die ich ihr nach kurzem Zögern gebe. Erklärend berichtet sie: „Meine Tochter ist gestorben. Vorige Woche ham wir sie beerdigt. Es war kaum jemand da, ihr Freund nicht mal. Ich und ihr Erzeuger, Erwin und der FC-Bayern-Fan. Ich bin immer noch ganz fertig! Die war einfach ins Koma gefallen und ist nicht mehr aufgewacht. So down hab ich die noch nie erlebt. Aber das war ja klar, bei der Menge. Um sechs abends ballert sie sich noch einen rein, im Bad, bei mir zu Hause. Da lag sie dann. So hab' ich sie vorgefunden. Ich habe natürlich gleich die Feuerwehr gerufen. Also, ich würde sagen, die war zwar erst achtzehn, aber die hat mit Absicht 'nen Abgang gemacht, sonst hätte die sich nie soviel gemacht. Sie hat mir ja gesagt gehabt, daß sie keinen Bock mehr hat, daß sie keinen Entzug macht. Das war, wie sie zum letzten Mal gegriffen worden ist von den Bullen am Ku'damm. Und das Schärfste, ihr Freund kommt bei mir an nach der Beerdigung und will Sachen von ihr, 'ne Hose und so. Wenn ich nicht die Indianer da hätte, die von der Musikgruppe aus Peru, die kennst du, die, die immer auf der Straße spielen, also ich, ich könnte nicht für mich garantieren. Die sind so lieb zu mir. Der eine, der ist besonders süß, der hat mir sogar hier meine Hose ausgewaschen. So was hat für mich noch nie ein Macker gemacht.“

Der Antiquar kommt. Er hatte unlängst Geburtstag. Wir haben ihm ein fahrbares Hamsterwägelchen geschenkt (die Griffe seiner Tasche begannen sich bereits aufzulösen), wir besuchten die Heiner-Müller-Ausstellung in der Akademie der Künste und gingen anschließend Essen, in einem Restaurant über dem Laden von Beate Uhse. Zuerst mochte er das Wägelchen nicht, doch nun benutzt er es auch an jenen Tagen, an denen wir uns nicht sehen. Geschickt bugsiert er es die Treppe hinaus und ruft atemlos: „Tach, Tach... Ach, was ich noch anmerken wollte wegen Müller, ich war eigentlich enttäuscht, ehrlich gesagt. Der ganze Ausstellungsraum hing voll mit diesen schwarzen Fahnen, oder was das sein sollte, und überall groß der Name drauf. Mich hat das irgendwie erinnert an eine Eröffnung vom Autosalon oder so. Nachher hat man dann auch gesehen, warum alles so vollhing, und auch warum da in der Mitte der Berg mit leeren Karteikästen und Manuskriptschachteln aufgetürmt war, das haben sie gemacht, um Fülle vorzutäuschen, bestimmt. Es war ja eigentlich nichts da, das angeblich umfangreiche Lebenswerk hatte man ja im Nu durch! Armselig eigentlich. Gegen die Brecht- Ausstellung damals, voriges Jahr, da haben wir doch länger als zwei Stunden mit Lesen und Anschauen verbracht, dagegen war das ja hier gar nichts! Ach, und weißte, was noch? Bollweber ist wieder raus. Er sagt, er war krank, mehr sagt er nicht. Das ist ihm wohl peinlich. Ich hab' ihm jedenfalls erzählt, daß ich mit Bruno damals in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik war, um ihn zu suchen, und wie sie uns rausgeworfen haben, weil wir uns ein bißchen aufwärmen wollten. Komm, geh'n wir mal rein, vielleicht isser schon drin.“

Und tatsächlich, da sitzt der mehr als eineinhalb Jahre verschollen gewesene „Monsieur Roland“ neben Frédéric in der Kirchenbank und scheint der Predigt von Pastor „Paule“ zu lauschen. Seine Körperhaltung ist nach wie vor schlecht, das Haar trägt er kurzgeschnitten, der sprießende Bart ist stellenweise grau. Der Antiquar holt aus der Tiefe seiner fahrbaren Tasche diverse zerdrückte Plastiktüten hervor. Er verteilt sie blitzschnell auf die Stühle am nächstgelegenen Frühstückstisch und setzt sich dann neben Bollweber, der wohlwollend murmelt: „Guten Morgen Madame und Monsieur, wie ich sehe, haben sie bereits eingedeckt. Jetzt müssen wir nur noch hungern bis der Gottesdienst vorbei ist.“ Der Antiquar sagt: „Das ist gut, Dienst, ja, ja, das stimmt!“ Jemand zischt und ruft RUHE! Der Antiquar kichert verlegen. Die zahnlose Mutter kommt, mitten im Vaterunser. Sie setzt sich und betet laut und falsch mit: „...denn dein ist das Eigentum und die Macht und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen!“ Danach nimmt man zum Frühstück Platz. Der Antiquar verteilt wie nebenbei die Plätze. Ans Kopfende soll Elisabeth, die noch mit unserem Hund in der Hasenheide unterwegs ist, daneben er und der Kirchenmaler Frédéric, jeweils auf die Eckplätze. Neben ihm folgen Bruno der herzkranke ehemalige Kohlenschlepper, Bollweber und die zahnlose Mutter, an deren Seite unaufgefordert ein alter Mann Platz nimmt. Ich werde vis- à-vis an der Seite von Frédéric plaziert. Neben mir soll Helga sitzen, eine kindlich zarte Frau Anfang Vierzig, die ein wenig wie der junge Franz Kafka aussieht, Krebs hat und mit flinken, glänzenden Augen, lebhaft, aber zurückhaltend an den Gesprächen und Vorgängen teilnimmt. Den freien Platz zu ihrer Rechten wird wenig später ein uns allen fremder schweigsamer Mann einnehmen, der, hätte er nicht einen Diamanten im rechten Nasenflügel, gar nicht weiter auffallend wäre.

Helga trägt wie stets eine enganliegende Hose aus seltsam weich aussehendem und zugleich speckig wirkendem Leder. Ich frage sie, was das für Leder sei. Sie streicht mit versonnenem Lächeln über ihren Oberschenkel und sagt: „Das ist Pferdeleder, deshalb ist es so zart. Pferde haben ja eine viel dünnere Haut, als man denken könnte. Auf diesem Pferd bin ich noch selbst geritten. Sein Name war Dudelsack, und er war ein ganz liebes Tier. Als ich das letzte Mal bei meinen Pflegeeltern war, habe ich auf dem Dachboden die zusammengelegte Haut gefunden. Die haben sie abziehen und gerben lassen, nachdem das Pferd gestorben war. Sie wollten sich irgendwas draus machen und haben es dann vergessen, wahrscheinlich. Jedenfalls habe ich mich darüber geärgert, daß diese Haut da so vergessen herumlag, denn der Dudelsack war ein so freundliches Pferd, hat immer gewiehert zur Begrüßung. Nach einigem Widerstand haben sie es mir dann mitgegeben, und ich habe mir in Kreuzberg von jemand eine Hose draus schneidern lassen. Vorher wurde das Leder noch gefärbt, denn fast alle Häute sind ja von Natur aus hell. Vierhundert Mark hat mich diese Hose gekostet. Im Grunde ist sie unbezahlbar. Dudelsack, dein Leben hat sich gelohnt, sage ich mir immer wieder. Fühl mal an, wie schön zart das ist. Die Fleischseite trage ich nach innen.“

Bitte um die Marmelade“, ruft der Antiquar und begrüßt die ankommende Elisabeth mit einem über und über von Marmelade bedeckten Brötchen. Wer den an sich kultiviert wirkenden Antiquar je zum Frühstück ein Marmeladenbrötchen essen sah, wird diesen Anblick nie wieder los. Nicht nur, daß er vollkommen unsozial das für den gesamten Tisch bestimmte Schälchen leert, er beißt auch derartig gierig zu, daß sich klebrige Ströme über seine Finger, Lippen und Mundwinkel ergießen. Nur eifriges Lecken verhütet die weitere Bekleckerung von Hose, Hemd und Nachbarschaft. Es muß etwas Altes sein, ein ewig zehrendes Gefühl des Mangels aus seiner Kindheit, als er eines von elf Geschwistern war, die in ziemlich dürftigen Verhältnissen aufwuchsen. Merkwürdigerweise protestiert so gut wie nie jemand gegen diese Tat, man übergeht sie schweigend und ißt Wurst und Käse. Frédéric zupft nach Franzosenart das Weiche, Innere aus seinem Brötchen: „Das zieht mir die Prothese vom Gaumen“, sagt er, knetet die Masse in den Händen, formt dann eine fingerlange Walze und legt sie Elisabeth in die Hand. Während der weiteren Gespräche rollt sie es zu einer Kugel und modelliert geistesabwesend ein Gesicht, drückt mit dem Löffel einen Mund hinein und serviert es dem Antiquar auf den Teller. Er legt den Kopf schräg und sagt mit großem Ernst: „Aha, was ist denn das? Das schaut ja aus wie Gottfried Benn, wie die Totenmaske von Gottfried Benn, besonders der Mund und die Nase.“ „Tatsächlich“, bestätigt Elisabeth überrascht. „Nein, nein“, ruft Frédéric, nimmt den Teigkopf an sich und sagt: „Der sieht genau aus wie dieser Rechtspfleger, den ich salemals hatte bei meinem Prozeß. Der hat zu mir folgendes gesagt: ,Die Gesetze sind da, um die Gesetze zu schützen und nicht sie, guter Mann!‘“ Liebevoll verteilt er den winzigen Rest leuchtend roter Marmelade auf Nase und Mund des Knetgesichts und reicht es an den Antiquar zurück. Der ruft aus: „Oh, ein Blutsturz!“ und lacht so sehr, daß ihm die Tränen in die Augen treten. „Der ist aber an einer Darmblutung gestorben, der Gottfried Benn“, bemerkt Elisabeth. Und der Antiquar, stets an exakten Angaben interessiert, fragt: „Ist das wahr, ist das wirklich wahr?“ Doch Frédéric sagt streng und abschließend: „Mund oder Darm, es ist ein Schlauch!“ Erwin kommt an den Tisch und schaut rätselnd auf die Teller und Gesichter: „Ich wollte eigentlich ein bißchen Marmelade borgen, aber...“

Ein junger Mann geht vorbei und grüßt flüchtig zu Helga hin. Er trägt einen halblangen pelzgefütterten Wildledermantel und einen Schal mit Burburry-Muster um den Hals. Helga sagt nachdenklich: „Komisch, hier kommen 'ne Menge Leute her, denen siehst du gar nicht an, daß es denen nicht so gut geht. Die wirken gut gekleidet, weil sie sich die guten Klamotten in der Kleiderkammer holen geh'n. Also ansehen tut man denen das Sozialamt nicht.“ Bollweber, der die ganze Zeit über mit melancholisch blickenden braunen Augen und einem leisen Lächeln schweigend zugehört hat, setzt seine Tasse ab und sagt entschieden: „Vielleicht ist grade das die Scheiße, denn so fallen sie Armen in der übrigen Gesellschaft gar nicht mehr auf.“ Der Radfahrer erscheint, reißt seine Mütze vom Kopf und brüllt übergangslos: „Hallo, schöne Damen und Herren, na sdarowje! Ich habe eine Luftpumpe an Bord, wollte ich nur sagen. Braucht jemand Luft? Nee?“ Vergnügt geht er ab. Die zahnlose Mutter blickt ihm nach, und Bollweber setzt seine Ausführungen fort: „Also, ich wollte folgendes sagen: Weil wir gut gekleidet sind – mancher sogar geschmackvoll...“ „So wie icke!“ sagt die zahnlose Mutter. „So wie du, meinetwegen“, übergeht er mild die Unterbrechung, „deshalb verwechseln uns die anderen mit den anderen. Die Besserverdienenden. Die verwechseln Egalité mit egal. Wir sind denen egal. Wenn wir unsichtbar sind, um so besser!“ Der Antiquar ruft: „Früher haben sich die Bettler sogar selbst verstümmelt, oder sich falsche Wunden aufgeschminkt, und Bruno hier, der trägt ja auch eine falsche Krücke!“ Bruno ereifert sich: „Aber neulich, da hättet ihr dabei sein müssen. Ich war doch in der Veranstaltung bei dem Wunderheiler aus Amerika. Die ganze Kirche dort war voll mit Leuten, die wollten alle geheilt werden. Ich auch.“ „Na und? Wat'n nu!“ drängt die zahnlose Mutter. „Ja selbstverständlich“, versichert Bruno, „ich bin geheilt worden. Wirklich!“ Seine kleinen Igelaugen ziehen sich im schadenfroh lachenden Gesicht zu Schlitzen zusammen. Der Antiquar bestätigt: „Ich war dabei. Er ist nach vorne, hat seine Krücke weggeworfen und hat gerufen: ICH BIN GEHEILT. Dann kamen gleich welche von der Presse.“ „Jemand von der taz war auch dabei“, freut sich Bruno, „ich habe Interviews gegeben. Später hab' ich mir dann heimlich die Krücke wiedergeholt – die sollten ja alle dableiben, als Beweise – ich hab' sie mir aber rausgeholt. Die brauche ich. Ich hab' sie in einer Mülltonne im Wedding gefunden. Seit ich die benutze, sind die Leute viel freundlicher zu mir. Ehrenwort!“

Bollweber blickt auf Bruno wie auf ein seltsames Insekt: „Kein Wunder, daß kein Beamter mehr für uns arbeiten will! Ich erfahre das täglich. Meine Anträge, zwischen einer Heftklammer fixiert, die schmeiße ich denen auf den Tisch. Da bleiben sie liegen. Dann habe ich an die Gerichtskammer eine Korrespondenz losgeschickt, mit einer Reliquie im Inneren, ein Beweisstück dafür, daß ich es mit lauter Unwilligen und Unfähigen zu tun habe. Man attestierte mir eine Psychose. Vielleicht ist es nur eine kleine Psychose, deshalb bekomme ich keine Antwort. Ich ernte Schweigen. Wenn ich aber offen zu den Herren hingehe, um mein Anliegen persönlich vorzutragen, dann eilen sie auf mich zu, sind scheißfreundlich und sagen ,Na, Sie hätten doch anrufen können.‘ Ha, ja! Und die Assistentin, die wie eine Lütheranerin herumläuft, hat Mitleid mit mir! Die sind sehr schreckhaft, solche Leute. Darauf muß man Rücksicht nehmen, sonst fallen sie tot um.“ Der Antiquar sagt lakonisch: „In den Niederlanden gibt es Sterbehilfe!“ Bollweber hebt die Brauen: „Für die Armen?“ „Für Sozialarbeiter!“ ruft die zahnlose Mutter grimmig und Bollweber fügt hinzu: „Für Beamte wäre auch nicht schlecht.“ Frédéric spielt schweigend mit dem Teiggesicht, tupft es auf den Tellerrand und drückt die Nase platt zu rotem Brei. „Det sind doch allet Bekloppte und Penner da oben, die jesamte neue Regierung inbejriffen! Kiekt mal, wat sie mir jegeben haben.“ Sie kramt in ihrer Tasche, holt einen Scheck hervor und hält ihn Bollweber hin. „Siebzig Mark“, liest er vor, „na, das ist nicht mal 'ne Ameise, damit kommst du nicht weit!“ „Wem sagste det!“ bestätigt die zahnlose Mutter und schwenkt den Scheck in der Luft. „Gib rüber“, ruft der Antiquar, „wir machen was draus!“ Frédéric sagt strahlend: „Ja, wir machen 'ne Null dran.“ Bollweber schüttelt den Kopf: „Leute! Das wäre ja noch immer zuwenig. Der Mensch hat Bedürfnisse im ausgehenden 20. Jahrhundert, die müssen befriedigt werden. Deshalb plädiere ich für eine Mindestrente für alle, 2.000 Minimum, das sich mit den Preissteigerungen erhöhen muß. Dann kann so was auch nicht mehr vorkommen, daß sich Sachbearbeiter, wie die vom Sozialamt Reinickendorf und Wedding, Hunderttausende Mark von den Sozialhilfeempfängern in die eigenen Taschen stecken.“ „Ja, in Neukölln och, die Schweine. Und uns Moralpredigten halten!“ ruft die zahnlose Mutter, und Helga fügt hinzu: „Na, das war ein Hammer. In der BZ stand, sie haben Sozialhilfeempfänger erfunden und sich die ganze Kohle aufs eigene Konto gescheffelt.“ Bollweber nimmt streng den Faden seines unterbrochenen Gedankengangs wieder auf: „So was würde nicht mehr vorkommen, weil die Sozialämter geschlossen werden und die Arbeitsämter auch. Was da allein schon an Gehältern und Kosten eingespart wird, das ist schon die halbe Miete! Wer mehr als 2.000 will, der muß irgendwo den Diener machen.“ „Viele haben ja nicht mal 2.000 Mark Rente. Die würden sich freuen“, sagt der Antiquar versonnen, aber die zahnlose Mutter widerspricht: „Besser isset, eijenet Jeld zu verdienen. Ick hab' jutet Jeld verdient, war im Radiofachhandel jahrelang. Ick hatte 'ne umfangreiche Plattensammlung, die wäre heute bestimmt Tausende wert. Jeklaut, allet jeklaut hamse mir! Und ick habe keinerlei Beweise.“ Sie kramt erneut in ihrer Tasche und zieht ein Schwarzweißfoto hervor. „Det habe ich mir extra abzieh'n und verjrößern lassen. Da, kiekt euch det Bild mal an“, sagt sie und reicht es herum. Es zeigt eine hübsche, junge blonde Frau in einem Sommerkleid im Stil der frühen 70er Jahre. Sie lehnt an einer dunklen Schrankwand mit Glasscheibe, dahinter sieht man ein Lexikon stehen. Bruno betrachtet das Bild ratlos und fragt, wer das sein soll. „Icke!“, ruft die zahnlose Mutter schmerzerfüllt aus, „meine Brockhäuser und icke! Heute bin ick anjewiesen uf det Jeld fremder Leute. Trotzdem spar' ich mir wat, für den Notfall!“

Helga verabschiedet sich, sie hat eine Verabredung. Und auch die zahnlose Mutter zieht ihren Mantel mit einer eleganten Geste und blasiertem Gesichtsausdruck über. Zum Abschied nuschelt sie verlegen einen Gruß. „Spar mal schön!“ sagt Bruno aufmunternd, und Bollweber, ihr hinterher winkend, sagt: „Eigentlich merkwürdig, daß der Sozialhilfeempfänger – wenn er unbedingt will – monatlich vier Ameisen auf die hohe Kante legen könnte. Immer vorausgesetzt natürlich, er raucht nicht, er trinkt nicht, leistet sich nichts und ißt in den Einrichtungen. Da könnten, aufs Jahr gerechnet, mindestens 4.800 Mark zusammenkommen. Dafür kann ich schon eine Fernreise machen, Last Minute, oder ein Computer ist drin und andere schöne Sächelchen. Man muß sich wirklich wundern, das Essen umsonst, die Kleidung umsonst... Was machen die alle mit ihrem Geld? Was machst beispielsweise du mit deinem Geld? Aber die Wahrheit, wenn ich bitten darf!“ fragt Bollweber den verblüfften Antiquar, der leicht errötend stammelt: „Also, die Wahrheit ist... ich kaufe mir Bücher und auch Zeitschriften...“ „Für 400 Mark?“ bohrt Bollweber. Der Antiquar grinst und antwortet wie ein Schulbub: „Nicht ganz, nee, ein bißchen was brauche ich ja auch noch zum Leben.“ Bollweber betrachtet ihn stirnrunzelnd: „Was für ein Leben? Du bist Nichtraucher, du hast einen nervösen Magen, ißt außer Haus?“ Bruno klammert sich an seine Krücke, stößt sie mehrmals am Boden auf und kann es nicht länger bei sich behalten: „Sag's doch, sag's doch endlich, mach, sonst sage ich es: Der war nämlich bei Molly Luft!“ „Molly Luft“, ahmt Bollweber den bedeutungsvollen Tonfall Brunos nach, „ist mir nicht bekannt. Ich kenne nur Friedrich Luft, aber der ist schon jahrelang tot.“ Der Antiquar legt den Zeigefinger auf seine Lippen und sagt bittend: „Sei doch still, Bruno, du hast versprochen, daß du nichts sagst!“ Bruno bläst die Backen auf, streicht sich über seinen im Winter angefressenen Wanst und ereifert sich: „Komm, hab' dich nicht so, das kannst du doch ruhig erzählen, ist ja nichts Schlimmes. Also, ich erkläre euch die Sache: Molly Luft, das ist eine Berühmtheit, das ist die dickste Hure Deutschlands!“ Bollwebers Interesse läßt sichtbar nach: „Ach, geh mir weg mit Huren, die sind doch alle gleich!“ „Die nicht“, protestiert Bruno, das ist eine tolle Frau! Die ist zwar schon alt, hat aber solche Dinger!“ Er macht ausladende Handbewegungen über seinem Wanst. „Und außerdem“, fügt er hinzu, „ist sie unheimlich in Ordnung. Mit der kann man reden. 80 Mark hat der Gerhard nur bezahlt.“ Bollweber fragt höhnisch: „Fürs Reden?“ Der Antiquar windet sich: „Na ja, nicht nur... was anderes war auch noch... Also ich wollte... hat aber nicht so ganz geklappt in dem Moment. Wie das so ist. Später, als ich die Treppe runterging, kurz vor der Haustür, da auf einmal... da hätte ich gekonnt!“

Frédéric sagt sarkastisch: „Wärst du eben noch mal rauf! Nein, höret sie mal, ich kenne so was. Das Sexuelle ist nicht so einfach, wie mancher denkt. Bei mir war es so. Ich bin mit zwanzig nach Algerien gekommen in der Fremdenlegion, und da war ich noch... wie sagt man? ...ganz naiv. So, da hätte sich die schönste Frau nackig vor mich hinstellen können, da wär' ich kalt geblieben, vollkommen kalt. Weil, es kann nichts da sein, im Gefühl, wenn man so aufgewachsen ist wie ich, im Waisenhaus bei den frommen Schwestern. Ich hab' da fast nur onaniert. Bei mir hat sich nichts gebildet, ich hab' ja keine Liebe gekannt, keine Zärtlichkeit – als Kind und auch später nicht. Und alles, was so wuschelig gewesen ist, ob das ein Hund war oder ein Junge, mit dem konnte ich am besten umgehen, da habe ich einen hochgekriegt. So war meine Entwicklung. Und das erste Mal, wo ich mit einer Frau ins Bett bin, das war salemals in Algerien. Sie war keine Prostituierte, sie war verheiratet und hatte Kinder, eine Offiziersfrau. Ich hab' mir ihr Dings angeguckt mit den vielen Haaren und dachte, gut, versuch ich's mal. Und was soll ich sagen, das einzige, was mich wirklich ein bizzele begeistert hat, sie konnte Knutschen ohne Knutschflecken zu machen. Das kannte ich nicht. Ich hab' sie sogar gefragt: ,Wie machst du das?‘ – aber sie wußte es nicht.“ Der Antiquar ist ein wenig unsicher, ob die Geschichte nicht vielleicht doch vor Hohn und Spott trieft und sagt vorsichtig: „Eigentlich schade, so hat sie dir nicht mal ein Andenken gemacht. Ich hab' übrigens ein Andenken bekommen, ein dauerhaftes sogar. Ein Autogramm hat sie mir zum Schluß gegeben, ein ganz persönliches!“ Er zieht aus der Innentasche seines Sakkos einen Briefumschlag und reicht ihn mir. Der Aufdruck „Das preiswerte Buch. Monatshefte für den Bücherfreund“ ist durchgestrichen. Innen liegt, geschützt in einem gefalteten Briefbogen, das Beweisstück im Postkartenformat. Abgebildet sieht man eine korpulente ältere Frau in scharlachrotem Negligé, die mit schräggelegtem Kopf und geradezu gelangweiltem Gesichtsausdruck ihre entblößten schweren Brüste präsentiert. Quer über die Karte ist mit blauem dickem Filzstift geschrieben: „Für Herrn Gerhard. Molly Luft“, und zwar so, daß, trotz der Größe des Schriftzugs, Gesicht und Brüste unbeschriftet blieben. Auf der Rückseite steht, eingerahmt von Herzen und kursiv gedruckt: „Molly Luft Deutschlands dickste Hure 330 Pfund mit den größten Titten und dem riesigsten Hintern Berlins, bekannt aus Fernsehen und Presse, erwartet Sie in ihren privaten Räumen mit ihren scharfen Freundinnen, täglich 9–20 Uhr (...)“ Ich reiche dem Antiquar seine Trophäe zurück, Bollweber winkt ab, und auch Frédéric ist nicht sonderlich interessiert, also packt er die Karte sorgsam wieder ein und verwahrt sie in seiner Brusttasche. Ein merkwürdig zufriedenes Lächeln liegt über seinem Gesicht. Er sagt: „Die Frau ist eine Berühmtheit! Neulich war sie sogar in der Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz. Da war wieder so eine Veranstaltung, über vier Tage lang, der Schlingensief hat sein ,Ficken 2000‘ gemacht, mit Molly Luft...“ „Ach, Schlingensief, das ist auch so einer, so ein Blender, ein Bubibaby“, bemerkt Bollweber mit verächtlicher Miene. Der Antiquar jedoch gibt so schnell nicht auf und bettet Molly Luft noch eifriger in den Zusammenhang der Theaterveranstaltung hinein, erzählt vom „Deleuze/ Guattari“-Spektakel, vom „Anti- Ödipus“, vom Chaos, das in der Volksbühne und generell herrsche. Molly Luft blicke als betagte Hure auf eine lange Arbeits- und Lebenserfahrung zurück und sei darüber zu so einer Art Philosophin geworden, lobt er: „Nichts Sexuelles ist ihr fremd.“ Bruno spitzt kennerhaft die Lippen und sagt: „Zu der Frau muß man sich erst mal trauen!“

Es geht nicht ums Trauen!“ widerspricht Bollweber, „ich bin da ganz bieder, ich brauche was fürs Herz und Hirn, aber ich bin ein Transitmann, ich bin immer hart an der Grenze oder jenseits der Grenze. Mit mir hält es keine Frau aus, leider.“ Bruno hebt den Zeigefinger und sagt dozierend: „Siehste. Geh doch mal hin, sie hat für alles Verständnis, und teuer ist es auch nicht. Eine Freundin ist viel teurer, die mußt du zum Essen ausführen, ins Kino, mußt ihr Geschenke kaufen, das geht ins Geld.“ Der Antiquar, der fast ebenso zum Geiz neigt, kichert meckernd, bis Bollweber fragt: „Haben wir hier eine Ziege unterm Tisch, oder was? Mir geht es überhaupt nicht ums Geld, die zwei Ameisen, die lege ich doch gerne an, um einer Frau mal eine Freude zu machen. Was seid ihr denn alle für komische Roboter, frage ich mich schon eine ganze Weile. Und Sie, mein Herr? Ja, Sie, mit der Diamantennase, haben Sie auch kein Geschlechtsleben?“ Der Angesprochene fragt erschrocken: „Ich? Meinen Sie mich?“ Bollweber sagt scharf: „Ja, Sie! Haben Sie nicht manchmal Angst, überfallen und ausgeraubt zu werden, oder ist der Stein gar nicht echt?“ Der Mann antwortet erleichtert: „Klar doch, lupenrein, den faßt keiner an, ohne zu fragen. Und viele wissen sowieso gleich Bescheid. Das ist je ein Erkennungszeichen ... Also für alle Anhänger und Fans der Kelly-Familie, das muß man wissen. Ich bin totaler Kelly-Fan, lasse kein Konzert ausfallen, da müßte ich schon todkrank sein. Ich liebe die richtiggehend, die ganze Familie, der ihr ganzes Leben, das sie so führen, und natürlich die Musik, alles! Deshalb hab' ich mir das machen lassen. Für die geb' ich mein ganzes Geld aus – da könnt ihr ruhig blöd lachen, das macht mir gar nichts! Ich habe 'ne Riesenplattensammlung, CDs, Poster, Autogrammkarten, T-Shirts mit Autogramm, alles. Ihr müßtet mal meine Wohnung seh'n, die ist überall vollgepflastert mit Postern, Wand und Decke, nicht einen freien Fleck gibt's mehr. Sonst interessiert mich nichts, gar nichts anderes. Für mich gibt's nur die Kellys. Die Kellys sind meine Liebe, will ich mal sagen, meine einzige große Liebe. Da bin ich stolz drauf!“ schließt er trotzig, steht auf, zieht seine Jacke an und geht hastig. „Seltsame Leute gibt's!“ sinniert Bruno, erhebt sich und greift automatisch nach seiner Krücke. „Geh'n wir, es wird Zeit“, ermuntert er die verbliebene Tischgesellschaft. Der Antiquar schlüpft umständlich in seine Jacke und kramt im Wägelchen, dann hält er die vertrauten gefalteten Bankformulare in der Hand, auf deren Rückseite er in kleinen Druckbuchstaben stets all die Dinge notiert, die er fragen oder sagen möchte. „Ach ja“, ruft er aus, „in Amerika gibt's noch viel seltsamere Leute. Da war doch dieser Obdachlose unlängst verhaftet worden, der schlief unter Brücken, war ganz schmutzig. Der hat Leute umgebracht, um sie zu essen. In seinem Eßgeschirr hat die Polizei Menschenfleisch gefunden. In der Vernehmung hat er alles zugegeben. Der hat folgendes behauptet: Frauen schmecken nach Huhn, und Männer schmecken nach Bouletten.“ Er blickt erwartungsvoll in die Runde, man zuckt die Schultern. Nur Bruno streicht sich über den Magen und sagt: „Mensch, ich kriege schon wieder Hunger!“

Nachtrag (Die Suppenküche ist überall). Am Abend dieses Tages fand ich zu Hause folgendes Schreiben in der Post vor:

Berlin, 2. März 1999

betr.: „The last dinner“ im Strandhotel Seebad Ahlbeck uf Usedom

Sehr geehrte Frau Goettle,

anliegend übersenden wir Ihnen einen Flyer sowie die Kopie eines Artikels, der am 24.2.99 in der „Ostseezeitung“ erschienen ist.

Unseren Gästen wird zum preisgekrönten Spielfilm das original 11-Gänge-Menü serviert, wie es an Bord der R.M.S Titanic serviert wurde.

Nach unserem Wissen ist der von uns veranstaltete Abend in dieser Form einzigartig und findet gerade bei unseren Berliner Gästen großen Anklang.

Sollten Sie Interesse haben über diesen sehr außergewöhnlichen und interessanten Abend in unserem Hotel berichten zu wollen, bitten wir Sie, sich mit unserem Herrn Hüttemann unter der Telefonnummer 841 99 00 in Verbindung zu setzen.

Nach Rücksprache wäre auch eine Teilnahme an einem der Titanic- Abende möglich, wobei Sie sich selbst von der Qualität der Speisen und der Inszenierung überzeugen können.

Mit freundlichen Grüßen

Strandhotel Seebad Ahlbeck