Im großen dunklen Loch der Ungewißheit

■ Über die tatsächlichen Auswirkungen der Nato-Angriffe auf ihr Land wissen die Menschen in Jugoslawien kaum etwas. Dafür kursieren Gerüchte, und es wächst der Glaube an die eigene Stärke

Der Luftalarm in Belgrad hört überhaupt nicht mehr auf. Hielten sich die Bürger an die Vorschriften, kämen sie gar nicht mehr aus Luftschutzbunkern und Kellern heraus. Doch die Menschen haben sich an die potentielle Gefahr gewöhnt. Peinigend ist aber, daß man in Belgrad nicht weiß, was ringsherum passiert. Wie groß das Ausmaß der Zerstörung ist. Wie viele zivile Opfer es gibt. Ob die Verteidigungskraft der jugoslawischen Armee ernsthaft geschwächt ist.

Das dunkle Loch der Ungewißheit können die dürftigen Informationen der gleichgeschalteten Medien nicht füllen. Beharrlich verbreiten sich Gerüchte, daß die jugoslawische Flugabwehr und Luftwaffe dem „Nato-Aggressor“ erstaunliche Verluste zugefügt hätten. Und daß in Makedonien französische Soldaten desertieren und die Nato-Mitgliedsstaaten zerstritten seien. Daß sich Europa sehr bald gegen die Weltherrschaft der USA auflehnen und sich auf die Seite der Serben stellen werde.

Auf den Punkt gebracht beherrscht ein Leitgedanke Jugoslawien: Die Nato, angeführt von den USA, hat das Land ohne offizielle Kriegserklärung angegriffen, und Jugoslawien führt einen berechtigten Verteidigungskrieg. Kosovo, die Friedensverhandlungen sind längst vergessen. Obwohl Jugoslawien über eine relativ veraltete Kriegstechnologie verfügt, scheint Belgrad nicht im geringsten von der größten militärischen Macht der Welt beeindruckt.

Vier Jahrzehnte lang hat Jugoslawien unter Tito seine Kriegsmaschinerie für einen potentiellen Krieg gegen die UdSSR oder die USA ausgebaut. Dafür wurden jugoslawische Offiziere ausgebildet. Der Großteil der jugoslawischen Kriegsmaschinerie ist beweglich und kann nur schwer aus der Luft vernichtet werden. Militärexperten gehen davon aus, daß der jugoslawische Generalstab nur einen geringen Teil der Boden-Luft-Raketensysteme aktiviert hat.

Stark macht die jugoslawische Armee vor allem der Glaube der Bevölkerung an die eigene Stärke. Das abgeschossene Wunder modernster Kriegstechnologie, die F-117-A, hat die Serben im Glauben an ihre Unbesiegbarkeit nur noch mehr bekräftigt. Teile des „Nachtfalken“ kann man in Belgrad schon als Souvenir finden.

Was jedoch passieren wird, falls der serbische Trotz noch einige Wochen den Luftangriffen der Nato standhält – diese Horrorvision möchte lieber niemand zu Ende denken. Wahrscheinlich würde die Nato, um das Leben eigener Soldaten nicht zu gefährden, der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK Waffen zuschieben und sie als eigene Infanterie benützen. Dann würde Rußland unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe Jugoslawien mit modernsten Waffen aushelfen. Und dann hätte man auf dem Balkan das Szenario: Zwei Weltmächte probieren ihre Waffen in einem dritten Land aus.

Informationen aus dem Kosovo dringen kaum nach Belgrad durch. Gewiß ist aber, daß die humanitäre Katastrophe dort nie so groß war. Es gibt gar keine Hemmungen mehr. Jugoslawische Armee und serbische Polizei säubern die Provinz von allen vorhandenen und potentiellen Feinden. Wen das erste Resultat des Nato-Angriffs, mit dem Ziel, den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević in die Knie zu zwingen, wundert, der kennt sich auf dem Balkan nicht aus. Andrej Ivanji, Belgrad