Grenzen der Moral

■ Vorschau 1 : Berufstalker Jürgen Domian und Hella von Sinnen betalken im Modernes Glück, Grauen, Grenzen des Talkradios

An seinen Rändern entlang ist ein Gegenstand besonders gut zu definieren, denn da grenzt er sich schließlich von seiner Umgebung ab. Die Schamgrenze verläuft dort, wo das moralische Verständnis vom Erlaubten endet und das Böse beginnt. Wenn ein Buch des Radio- und TV-Moderators Jürgen Domian und der Entertainerin Hella von Sinnen samt Bühnenreproduktion „Jenseits der Scham“ angesiedelt ist, heißt das nun nicht, daß hier „unbekümmert um alle moralischen und formalen Schranken und mitgerissen von der Sturzflut der Erinnerung“ (aus dem Klappentext zu einem anderen Buch) die Moral in Grund und Boden kritisiert würde.

Vielmehr sind Domian und von Sinnen Vertreter einer aufgeklärten Moral, die sich an Lesbischwul ebensowenig stört wie an Polygamie, aber einem Hooligan namens Antonio, der gerne in Lens dabei gewesen wäre, als ein französischer Polizist fast totgeschlagen worden wäre, ins Gewissen redet: „Das ist eine unendliche Sauerei und hat unser Land, den Ruf der Deutschen im Ausland sehr beschädigt.“

Solchermaßen geerdet findet nächtens auf deutschen Ätherwellen (WDR zwischen 1 und 2 Uhr) jedenfalls unter Domians Ägide Erstaunliches statt. Bunt ist das Volk der Anrufer: der erwähnte Hooligan; eine junge Frau, die davon erzählt, daß ihr Freund auf „Anpupsen“ steht; ein junger Mann, der ein paar Stunden zuvor seine Eltern in einem bekannten ICE-Unglück verloren hat; eine Frau, die in der USA während eines Schülerinnenaustauschs von ihrem Gastvater brutalst mißhandelt wurde; ein Mann, der sich mit Hilfe eines legal zu erwerbenden Giftes regelmäßig für mehrere Stunden in Lebensgefahr begeben hat.

Dabei ist dann Domian weniger der betuliche Dr. Jürgen Marcus für Leute unter 80, sondern wird auch mal laut, wenn ihm etwas über die Hutschnur geht. Wenn beispielsweise ein Mann mit ganz normalen persischen Vorstellungen einer Ehe diese vehement vertritt, dann bekommt er es deutlich: „Guck mal ins Grundgesetz. Wir leben hier, Gott sei Dank, nicht mehr im Mittelalter.“

Daß dabei, wie beim Thema Selbstjustiz, der Moderator sich zuzeiten ausdrücklich in Selbstzensur üben muß, macht zweierlei deutlich. Zum einen, daß nicht alles, was die Menschen vor den Bildschirmen und an den Rundfunkempfängern im Lande so bewegt, einfach diskutiert werden darf und auch dem nahezu unendlichen Verständnis eines Moderators juristische Grenzen gesetzt sind. Zum anderen bieten die Anonymität und ebenjenes Verständnis, die Domian seiner Klientel gewährt, offenbar ausreichenden Schutz vor gesellschaftlicher Ächtung, weshalb es der Geständniswille deutscher BürgerInnen gestattet, zum Schaudern tiefe Einblicke in das zu nehmen, was der menschliche Geist so zu leisten imstande ist. Und das ist eben manchmal so lächerlich, wie es manchmal erschütternd ist. Heute abend wird Domian übrigens auch selbst aus dem Nähkästchen plaudern.

Andreas Schnell

'Jenseits der Scham' mit Jürgen Domian und Hella von Sinnen findet am 31. März im Modernes in Bremen statt.